Das Lagerhaus, das laut Chers Erkundungen die große Gruppe Schlangenanhänger, die den Hinterhalt durchführen sollten, beherbergte war ein alter Bau, der schon längst nichtmehr zu seinem ursprügnlichen Zweck genutzt wurde. Missmutig hockten die Männer herum, warteten auf ihren Einsatz, würfelten, spielten Karten und ärgerten sich lautstark über die vielen rostigen Nägel, an denen man sich die Ellbogen aufschürfen konnte. Wie dünne Finger fielen Sonnenstrahlen durch die zahlreichen schmalen Ritzen und Spalten in der modrigen alten Decke. Netharkis, der befehlshabende Schlangenkultist und Leiter des heutigen Angriffs thronte auf einem Kistenstapel, das Haupt vom goldenen Sonnenlicht des Spätnachmittags gekrönt. Ein schneller Blick zu der Sanduhr, die er bei ihrer Ankunft aufgestellt hatte bestätigte ihm, dass es nicht mehr lange dauern würde. Die Späher hatten die zu vernichtende Abenteurergruppe noch nicht entdeckt. Sobald das letzte Körnchen in der Sanduhr gefallen wäre, würden die Schlangenmänner den Hafen durchkämmen. Sie waren eine zahlenmäßig sehr viel größere Gruppe als die Eintreiber, die von den weißen Kriegern scheinbar mühelos geschlagen worden waren. Besser bewaffnet und besser ausgebildet. Ja, Natharkis war sich absolut sicher, den Sieg erringen zu können. Ebenso wie seine vielen Untergebenen, die zu ihm aufsahen und ihn als Helden betrachtete, ihm in jeden Kampf folgen würden. Die Künste ihres Anführers mit der Schwertlanze waren legendär.
In dem Moment, als der Sand im Stundenglas verronnen war und der Einsatzleiter sich erhob, um den Aufbruch anzukündigen betrat die Gilde das Lagerhaus. Eine seltsame Veränderung ging mit dem Raum vor. Netharkis konnte das Gefühl weder erklären noch treffend beschreiben und noch sah er den Fremden nicht, der sich zu ihrem Versteck Zugang verschafft hatte. Das Licht wurde eine Idee intensiver, die Schatten schienen sich zu verdichten. Auch die Farben wurden kräftiger, der Saucenfleck auf seinem Wams - eine blasse Spur irgendeiner Tomatentunke - leuchtete förmlich auf. Ihm brach der Schweiß aus. War da nicht etwas gewesen? Die dunklen Ecken der Halle brodelten, wenn man nicht genau hinsah, es war als würden ihm seine Augen einen Streich spielen. Er glaubte aus den Augenwinkeln Gesichter, Fangzähne und Gestalten ausmachen zu können.
Auch die anderen Krieger hatten es bemerkt. Irgendein Hokuspokus war am Werk, einige sahen zu ihrem Anführer auf, dem das Licht, das ihn vorher noch majestätisch hatte aussehen lassen, gruselige Schatten ins Gesicht warf. Viele griffen instinktiv nach ihren Waffen. Die Gilde war erschienen.
Ihre Stimme war wie das Wispern des Laubes in einem herbstlichen Wald. Wie die Flügel von hundert großen Käfern. Wie Kieselsteine, die einen felsigen Hang hinabrollten. Netharkis konnte nicht sagen, ob es eine weibliche oder Männliche Stimme war, doch volltönend und laut war sie in allen Ecken des großen Raumes zu hören, obwohl sie nur gehaucht zu werden schien.
"Ihr macht euch eines Vergehens verheerenden Ausmaßes schuldig. Eure Militäraktion gefährdet die Existenz der Welt. Ich muss euch auffordern, jedwege kriegerische Handlung umgehend zu unterlassen. Jeder der Answesenden hat seine Waffen zu strecken, Zuwiederhandlungen werden zunächst mit einer Verwarnung geahndet. Wiederstand ist zwecklos."
Netharkis konnte es nicht glauben. Was dachte sich diese komische Kreatur? Wenn Kreatur überhaupt die richtige Bezeichnung war. Der Fremde war klein, lief gebückt und hatte lange, braungräuliche Filzlocken, die ihm bis zur Hüfte reichten. Sein Gesicht war kaum zu sehen, denn sein Bart war in dem gleichen Stil gehalten, wie sein Kopfhaar. Außerdem überschattete ein großer, zunächst flach, dann jedoch immer spitzer zulaufender Hut aus Stroh und Leder, an dem viele bunte Perlenkettchen baumelten sein Antlitz. Lediglich zwei gelbliche Lichtpunkte zeugten von so etwas wie Augen. Seltsam unproportional, wirkte er gebrechlich, die dürren Beine machten einen kraftlosen Eindruck, waren zu kurz und schienen das Gewicht des Torso kaum tragen zu können. Der Fremde war in Lumpen gehüllt. Netharkis lachte ihm ins Gesicht.
"Was fällt dir denn ein, Alter? Geh nach Hause und iss deine Suppe auf, bevor du dich nicht mehr auf den Beinen halten kannst, Greis. Herumzulaufen und große Töne zu spucken wird dich früher oder später teuer zu stehen kommen."
Mit diesen Worten zog er seine gemein aussehende Schwertlanze hervor, die er vorher in das morsche Holz einer Holzkiste gerammt hatte. Geschickt ließ er die Waffe umherwirbeln. Die verstockte Athmosphäre, die durch die Ankunft des Dampfplauderers entstanden war löste sich in vielstimmigem Gelächter, den Schlangenmännern wurde schlagartig wieder ihre zahlenmäßige Überlegenheit bewusst. Sollte der Kleine nur herumstänkern, sie würden ihm schon Beine machen.
Die Gilde blieb unbeeindruckt. Zu oft hatte sie dererlei Prahlereien schon anhören müssen. Dem aufmerksamen Beobachter wären die zusätzlichen Augenpaare aufgefallen, die sich in all dem Filz jetzt auftaten. Es mussten wohl rund ein Dutzend sein.
"Ich muss euch warnen, Schlangenkrieger. Ich bin im Auftrag der Existenz unterwegs, es ist auch in eurem Interesse, dass ihr jetzt die Waffen niederlegt."
Der Tonfall war ruhig und auf gute Verständlichkeit ausgelegt, als würde zu einem Kind gesprochen.
Netharkis wurde es jetzt zu bunt. Ihn so in seiner Überlegenheit anzuzweifeln war eine Beleidigung ohnesgleichen und machte ihn rasend.
"Wenn du nicht von selbst Leine ziehen willst, dann gehst du eben in Stücken, dummer alter Mann!"
Mit diesen Worten sprang er von seiner erhöhten Position auf den leidigen Neuankömmling nieder, die Schwertlanze, die schon viele Leben genommen hatte auf das Herz zielend. Der Angegriffene seufzte. Mit einer blitzschnellen Bewegung riss er die dürren Arme hoch und ließ die Handflächen seiner feingliedrigen, schmalen Hände aufeinanderklatschen. Das Stichblatt der Schwertlanze war zwischen seinen Händen eingeklemmt. Der verdutzte Netharkis, der geplant hatte, nachdem Treffen seines Ziels den Angriff in einer eleganten Rolle zu vollenden, flog durch den eigenen Schwung an seiner arretierten Waffe vorbei und drohte nun, mit dem Alten zusammenzuprallen. Aus dessen verfilzten Locken und schmuddeligen Fetzen kam jedoch ein weiters Armpaar zum vorschein, die Hände zu Fäusten geballt. Ein schwungvoller Seitwärtshaken ließ den Schlangenkrieger zu Boden donnern. Klappernd viel nun auch die Lanze neben ihrem Besitzer auf die Planken.
Die Gilde strich nun ihre in Unordnung gebrachte Frisur glatt.
"Ihr seid hiermit verwarnt, Netharkis Meknerald. Wiederstand ist zwecklos. Räumt das Feld."
"W-we... wer bist du?"
Ja, wer war sie, die Gilde? Die Gilde war einer, die Gilde war viele. Ein Bündel Geister, ausgewählt von Höheren Mächten, kombiniert in einem Medium, die die Sicherheit der Welt zu gewährleisten hatten. Natürlich gab es Regeln. Die Verantwortung über den Fortbestand der eigenen Welt hatten deren Bewohner selbst zu tragen. Doch ab und an war es vonnöten, dass gewisse Schicksale in die richtige Richtung gelenkt wurden. Das Wege bereitet und Pfade ausgetreten wurden. Dann kam die Gilde zum Einsatz. Für diesen Tag hatte man einen Eingriff gestattet, denn der geplante Kraftraub an der Geisterwelt, die mit der Welt der Sterblichen eng verflochten war erregte auch in Kreisen der Höchsten Mächte einiges an Unbehagen. Der Zauberer Alexis sollte eine tragende Rolle dabei spielen, wenn es darum ging die Welt der Geister vor der Vernichtung zu Bewahren. In dem Hinterhalt dieses Tages hatte man Alexis Tod gesehen. Ein verheerender Verlust. Die Gilde tat also ihre Arbeit.
"Diese Frage muss ich Euch nicht beantworten. Packt euch jetzt, bevor es euch leidtut."
Den Letzten Satz meinte die Gilde durchaus ernst. In den Jahrtausenden ihrer Amtszeit hatte sie die Sterblichen lieb gewonnen. Ihnen weh zu tun tat ihr immerwieder Leid, so unverschämt sie auch waren. Dieser Netharkis hier wollte es schlicht nicht begreifen.
"Was steht ihr noch rum?! Lasst ihn für diese Unverschämtheit zahlen!"
Die Krieger, die bisher erschüttert und unschlüssig herumgestanden hatten kamen jetzt in Bewegung. Warum auch nicht? Sie hatten den Kerl unterschätzt, klar. Doch selbst wenn er ihren Anführer mit überraschende Leichtig- und Geschicklichkeit ausgeschaltet hatte, so konnten sie ihn doch durch ihre schiere Überzahl vernichten. Zu diesem Schluss kamen sie alle ungefähr gleichzeitig. Mit einem kollektiven Kampfschrei stürmten sie auf den kleinen Gesandten ein. Dieser zuckte mit den Schultern, wühlte in seinen vielen Taschen und Lumpen herum und brachte das Anatiphon zu Vorschein. Es war ganz aus rostigem Blech und war ein wenig geformt wie Haj'etts Armbrust. Doch statt mechanischer Spannvorrichtung und Bajonett besaß es in einem Lauf, der große Ähnlichkeit mit einem gekrümmten Entenkörper hatte.
Die Gilde legte an und zielte mit dem Entenkopf auf die Brust des nächsten Angreifers. An einem kleinen Regler stellte sie die Intensität der seltsamen Waffe auf ein Minimum. Dafür ließ sie sich Zeit und war konzentriert bei der Sache. Das Anatiphon war mit Vorsicht zu behandeln. Ein letzter prüfender Blick - und die Gilde drückte ab.
Was nun entfesselt kündigte sich zunächst mit einem quakenden Geräusch an, wie es eine Ente hervorgebracht hätte. Doch das Geräusch steigerte sich, warf ein Echo und gewann an Lautstärke und Tempo von erschreckender Intensität. Bald war es in unhörbare Frequenzen geflimmert. Die Schlangenmänner jedoch traf es wie ein Donnerkeil.
Der angepeilte Krieger wurde von einem tosenden Schallbündel umgefegt. Auch die restlichen Anwesenden wurden von den Füßen gerissen oder in die Knie gezwungen. Die Gilde stand selbstverständlich noch auf ihren kurzen, dürren Beinen.
Zielpersonen kampfunfähig gemacht, Aufgabe erfüllt. Sie machte kehrt und ging.
Diejenigen der Schlangenmänner, die jetzt nicht taub waren, litten zumindest unter den schlimmsten Kopfschmerzen ihres Lebens. Gnädig von der Gilde, das Anatiphon schwachzustellen.
"Hundertprozentig vertrauenswürdig! Slrp!"
Haj'ett konnte Chers Bedenken verstehen, doch Regis war ihm ein Freund und würde ihm bestimmt keine Falle stellen - so hoffte er jedenfalls. Dem Echsenmann blieb nicht verborgen, dass einige der Anwesenden sein Vertrauen in den geflohenen Schlangenmann nicht teilten. Xarxes wütender Blick war bohrend und jagte ihm Angst ein. Alexis Worte spendeten jedoch einiges an Trost und als sich der furchterregende Kai'shak auf ihre Seite stellte war ihm schon gleich etwas weniger mulmig zumute.
Pläne wurden geschmiedet und Worte gewechselt. Bevor Haj'ett es sich versah, wo er mit seinen Zweifeln, ob er in der Stadt bleiben oder seinen neuen Freunden helfen sollte, hinkam war er auch schon mitgerissen, Richtung Hafen.
Cher schien schon sehr bald verschwunden zu sein, ihre Fähigkeit in der Menge unterzutauchen war unglaublich. Der Echsenmann, der eben noch neben ihr gelaufen war beeilte sich, zu jemand anderem aufzuschließen. Die Assassinen waren ihm trotz der Hilfe, die sie waren, unheimlich. Seine Wahl viel auf Alexis, der soeben damit beschäftigt war, magische Intarsien zu verteilen, die gegen Angriffszauber helfen sollten. Haj'ett fand dies überaus sinnvoll, hatte es zwar keine Magier unter den Eintreibern gegeben, so waren sie bestimmt umso mehr unter den Kriegern vertreten, die ihnen irgendwo im Gewirr des Hafenviertels auflauern sollten. Bereitwillig ließ er seine Armbrust mit Schutzschriften und Runen versehen. Ein angenehmes Prickeln ging durch seinen Körper, als er die Waffe zurückbekam. Er fühlte sich stärker!
Den Rest der Zeit nahm sich der Echsenmann, um den Hafen und die Menschen zu betrachten. Die mechanischen Verladekräne faszinierten ihn, ebenso wie die Arbeiter, denen man ihren harten Beruf am Meer an Gesicht und Händen ablesen konnte.
Bald war auch Cher zurückgekehrt und berichtete von ihren Erkundungen. Ein Lagerhaus im Osten. Dort sollte sich die Schlange also aufhalten. Es war ihm schleierhaft, warum sie in dieses Wespennest stoßen sollten, wenn sie doch laut Regis' Brief im Hauptquartier viel leichteres Spiel hätten. Er beschloss aber, sich zunächst nicht mehr in die großen Entscheidungen einzumischen. Sein eigener Hinterhalt hatte ein desaströses Ende genommen. Mit den Assassinen und dem schreckenerregenden Kai'shak waren ihre Chancen vermutlich garnicht einmal so schlecht.
Klagend schossen die Möwen über den goldenen Himmel, der Abend nahte und das Licht tauchte das Hafenviertel in einen unwirklichen Schein. Kurz war Haj'ett, als fühlte er eine geweisse Präsenz, einen Geist oder dergleichen. Das Gefühl war jedoch so flüchtig und geschwind, dass er sich keine weiteren Gedanken darum machte. Ihn interessierte viel mehr, wie sie jetzt vorgehen würden. Vermutlich wäre es keine schlechte Idee, wenn der kolossale Ta'nor einfach hineinstürmte. Die Schlangenmänner würden garnicht wissen wie ihnen geschah. Fragend blickte der Echsenmann zu dem Hünen auf.