Raschen Schrittes, doch viele Umwege nehmend wand sich Regis durch die schwach beleuchteten Gassen Port Milans. Nur wenige Passanten waren auf den Straßen, die Bürger schienen den diesigen Nachmittag wie die Ruhe zu fürchten, auf die der Sturm folgte. Umso schwieriger war es für den heimstrebenden Schlangenmann, in seiner Eile nicht aufzufallen. Doch er war geschickt, was ihm erlaubte seine Gedanken schweifen zu lassen.
Er dachte an seinen "Beruf" und weshalb er ihn ergriffen hatte. Anders als viele seiner Kollegen ging er der Tätigkeit des Eintreibers nicht nach, weil er Gewalt verherrlichte und es genoß, Schwächeren auf die Birne zu hauen. Tatsächlich hatte alles damit begonnen, dass er Balthasar mit einem Stein bewarf, als dieser seine Raubzüge noch selbst in die Hand nahm. Denn auch Balthasar hatte klein angefangen...
Regis "Tolldreistigkeit", wie der Kultistenführer es zu nennen pflegte, hatte ihm eine feste Stellung im Gefüge des Schlangenleibes eingebracht - aus der Bruderschaft der Bettler in die Bruderschaft der Gauner. Vielleicht hatte ihn genau diese Herkunft den Funken bewahren lassen, den Respekt vor dem Leben, der ihn diejenigen achten ließ, die schwächer waren als er. Denn einst war auch er es gewesen, den man herumgeschubst hatte. Beliebt hatte es ihn aber nicht gemacht. Weder unter den Schlangenbrüdern, die ihn für seine Nachgiebigkeit und Gnade verachteteten, noch unter den Bürgern, die in ihm trotz allem den Verbrecher sahen, der er ja auch war. Aber immerhin lebte er - die Gosse hätte ihm weder ein langes, noch ein gutes Leben beschert.
Regis wusste genau, dass er kein Genie war, doch machte er sich viele Gedanken.
Freundschaft. Nicht viele waren es, die er im Laufe seines Lebens als Freunde hatte bezeichnen können. Er erinnerte sich schwach an Nepo, mit der er sich in Kindertagen auf den Gassen Port Milans durchgeschlagen hatte. Doch Nepo hatte er schon vor Jahren zu Grabe getragen, sein Freund hatte es nicht verstanden, dass Regis sich von der Schlange einwickeln lassen könnte.
Den Schritt nun doch verlangsamend rieb er sich die Narbe, die Nepos Dolch ihm eingebracht hatte, wie einen ewigen Abschiedsgruß, gegeben im Zorn.
Blieben da nurnoch Barnaberas, der Torwächter, der am Fallgitter saß, die Eingeweide des Schlangenkultes beschützte. Der alte, dem Grundsätzlich alles egal war, was nicht mit Lyrik und Poesie zu tun hatte bediente die Mechanik des schweren Eisentores nur deshalb, weil er im Austausch für Fachwissen und Wartungsarbeiten drei Mahlzeiten am Tag und einen warmen schlafplatz bekam. Barnaberas musste wohl schon seit Urzeiten in dieser Stadt leben, doch gab er von seinen Erinnerungen kaum welche Preis. Sie erinnerten ihn an schwere Zeiten und an seine Frau, sagte er immer, bevor er sich dann grummelig den Zahnrädern zuwand, die das Tor zum Leben zu erwecken vermochten.
Dann wäre da nur noch Haj'ett. Der kleine Echsenmann hatte einen delmut beweisen, den Regis schon seit Jahren nicht mehr erfahren hatte - un der wusste, dass er sich diesen Kerl bewahren musste. Die anderen waren ihm egal. Vor allem der Glatzkopf und die verfluchte Trollen konnten gerne zur Hölle fahren. Doch um Haj'etts Willen würde er auch sie beschützen.
Träge schwappte das Wasser des alten Kanals gegen die Burgmauer, eine Schar Krähen flog auf, als er sich dem unscheinbaren Eingang des Schlangennestes näherte. Das geheime Versteck der Schlangenbruderschaft befand sich unter der Festung zu Port Milan, war mit ihr verwoben, wie ein feiner Stoff. Einem dunklen Schlund gleich erhob sich vor ihm das Tor, das tief in den Felsen führte. Das leuchtende Auge, das Fenster zum Pförtnerhäuschen hob Barnaberas Gewohnheit hervor, fast rund um die Uhr dort oben zu sitzen, zwischen Getriebe und Literatur.
Regis klopfte dreimal kurz - und dann noch zweimal, diesmal mit längeren Abständen. Ihr Zeichen.
"Regis! Glaubs garnich, dassich dich nommal treff. Dachte die hättn alle plattgemacht."
Der heimkehrende Schlangenmann musste lachen, ob des typischen Gleichgültigen Tonfalls, den sein alter Freund vernehmen lies. Doch immerhin. Zwei Sätze, ohne dass man nachfragen musste. Barnaberas musste richtig aus dem Häuschen sein.
"Ich freu mich auch furchtbar dich zu sehen, Alter. Lass mich rein, du musst mir einen Gefallen tun."
Wenige Herzschläge später setzte sich das alte Räderwerk in Gang und zwang die Türflügel, die Pforte zu öffnen.
Wo sie wohl hingegangen waren? Alexis und der fürchterliche Riese waren nun schon seit gut einer Stunde verschwunden. Haj'ett wurde Angst und Bange bei dem Gedanken, den glatzköpfigen Magier mit diesem Monstrum umherziehen zu lassen. Wahrscheinlich war er schon längst gefressen worden, der Appetit, den der Echsenmann hinter dem Helm des Gepanzerten hatte ahnen können, machte vor einem mittelgroßen Menschen sicher keinen Halt.
"Haj'ett? Ja, das ist der da drüben. Der Eidechsenmann da."
Besagter Eidechsenmann leckte sich erschrocken über die Augen, als Wolken seiner Sorge weggeblasen wurden, vom Windstoß der Realität. Ein kleiner zerzauster Junge kam durch den Raum gewuselt, hielt - wie einen kostbaren Schatz und äußerst vorsichtig - einen Briefumschlag in den Händen, das Gesicht zu einem zahnlückigen Grinsen verzogen.
"Für sie, Sir. Nachricht von Regis."
Stolz überreichte er dem verdutzten Haj'ett den Umschlag.
"Ich hoffe, die Mission ist zu ihrer Zufriedenheit erfüllt worden, Sir, das macht ein Kupferstück, Sir."
Der Echsenmann war viel zu aufgeregt, um sich zu fragen, ob der Bengel nicht vielleicht schon vom Absender bezahlt worden war, ein Kupferstück wäre sowieso kein allzu großer Verlust. Die Münze wechselte den Besitzer.
"Vielen Dank, Sir, schönen Tag noch, Sir."
Der muntere Bote tippte sich zum Abschied an die Stirn und schon war er wieder verschwunden.
Haj'ett wandte sich seiner Lektüre zu.
Lieber Haj'ett,
Ich fasse mich kurz, doch ist das, was ich dir mit diesem Schreiben mitteile von äußerster Wichtigkeit. Geht unter keinen Umständen zum Hafen, heute Nacht! Wie ihr euch mit Sicherheit denken könnt, ist es Balthasar, dem Führer der hiesigen Schlange nicht entgangen, dass seine Eintreibertrupps aufgerieben worden sind. Als ich erzählte, welche Informationen ich an diese Trollin weitergab fasste er den Entschluss, euch am Hafen in einen Hinterhalt laufen zu lassen. Geht stattdessen heute um Mitternacht zum Eingang des Schlangennestes an der Burgmauer, gegenüber von Marcozkas Schauspielhaus. Das Tor wird offen sein.
Viel Erfolg!
Dein Freund Regis
Es war der zweite Brief in wenigen Tagen, der Haj'ett förmlich vom Hocker fegte. Gestikulierend versuchte er die anderen auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte Neuigkeiten!