Lea verbrachte den gesamten Ritt über die Zeit in Ruhe.
Die Worte, die Maku gesprochen hatte, sie waren vielleicht nur simple Versuche gewesen, ihr Bauchgefühl zu beruhigen, sie aufzuheitern und aufrecht zu erhalten, doch sie hatten Lea in tiefgehende Gedanken gestürzt. Und während ihr Arm pochte und in jeder nur möglichen Sekunde versuchte zu verheilen, pochte es auch in ihrem Kopf. „Seid Ihr dafür bereit?“, das hatte Maku sie gefragt. Aber.. War sie dafür bereit?
Wenn es nur um das eigene Opfer ginge, das sie hätte erbringen müssen – so wäre es ihr nicht zur Last geworden. Doch trug sie nun Verantwortung für weitaus mehr als sich selbst. All diese Verantwortung.. Auf ihrem Körper, bereits am Anfang der Reise geschunden. Zwar war ihr Geist ungebrochen.. Allerdings fühlte es sich an, als sei ihr Geist längst bei anderen Dingen.
Noch, noch war sie da – es war richtig was Maku gesagt hatte.
Und während sie hielten, um endlich ihr Lager zu errichten, kaute Lea etwas befangen auf ihrer Unterlippe herum.
-----
Zeitgleich schwang sich Sextana vom Pferd, willens, die teils wiedergewonnene Energie noch für diesen Frühabend aufzubrauchen. Ein kleines Nickerchen in der heißen Sonne war sicher kein Kräftebringer, aber Sextana fühlte sich nicht mehr völlig benommen. Solange sie nur endlich ihre Füße auf dem Boden spürte, spürte sie zumindest wieder etwas. Die zarten, doch geschundenen Füße wieder in ihre feinen Schuhe gesteckt, machte sie sich daran, ihr Proviant, das Äffchen und die Violine auf sich zu laden.
„Zu einem eigenen Zelt für die Damen sage ich nicht nein, auch, wenn es mir ganz gleich ist, ob ich mit den verehrten Herren, oder etwa in gleichgeschlechtlicher Gesellschaft bin.“, sagte Sextana und zwinkerte dem fragenden Tarek zu. Der Rotschopf erinnerte sich daran, wie oft sie in großen Zelten mit der Schiffsbesatzung ihres Vaters hatte klarkommen müssen. So etwas wie Privatsphäre gab es dort nicht, doch irgendwie hatte sich die junge Magierin damit immer zufrieden geben können. „Doch leider, wo ich doch nicht wusste wohin es mich führt, habe ich kein eigenes Zeltzeug mitgebracht. Es wäre mir lieb, wenn ihr mir etwas von eurem borgen könnt – aufbauen werde ich es allerdings selbst, damit möchte ich euch nicht auch noch zur Last fallen.“, antwortete Sextana mit gezwungen freundlichem Lächeln. Manchmal, ja manchmal fühlte sie sich wie geistig behindert gegenüber all diesen ungezwungenen Menschen. Dann stellte sie sich Fragen wie „sieht mein Lächeln überhaupt glaubwürdig aus?“ und „Merken die eigentlich, dass ich keine Ahnung habe, was ich gerade tue?“. Mit einem ausschweifenden Blick sah sie an Tarek vorbei. Als Karma ihr allerdings, fast als wüsste sie, dass Sextana gerade wieder in ferne Gedanken rutschte, in die Schulter drückte, da sah Sextana schnell zu Lea herüber und lächelte auch sie mit ihrem unsicheren-verblödeten-Lächeln an. „Uhm..“, murmelte sie, bis sie sich wieder fing. „Möchtest du mir helfen, Lea?“, fragte sie dann zögerlich nach. Offensichtlich plagten auch das Spitzohr gerade ferne Gedankenwelten und hielten sie davon ab, sofort zu reagieren.
„Es wird unser gemeinsames Zelt sein, natürlich helfe ich Euch. Vielleicht sollten wir auch Twiggy fragen, ob sie bei uns im Zelt unterkommen möchte.“, sprach Lea schließlich, als sie den Blick des Rotschopfs erwiderte. Ja, Twiggy – wohin war sie eigentlich verschwunden?
Die Magierin tat die Erwiderung der Elfe erst einmal ab und nahm das Zeltzeug entgegen, dass ihr wenige Momente später gebracht wurde. „Eine gute Idee. Aber bevor du sie aufsuchst, lass uns das Zelt aufbauen – solange die Sonne noch etwas Licht bietet, ist es leichter.“, sagte Sextana, als sie mit dem Aufbau anfing. Diese Zelte unterschieden sich etwas von denen, die ihr Vater auf Reisen zur Verfügung gehabt hatte. Sie waren sehr, sehr standhaft und der Rotschopf bewunderte während des gesamten Aufbaus, wie gut diese Leute vorbereitet waren.
Als das Zelt aufgebaut war, sprang Fräulein Karma ungeduldig hinein, um das Nachtlager zu inspizieren. Etwas müde von den Mühe, die das robuste Zelt gebraucht hatte, tat Sextana es dem Kapuzineräffchen gleich und setzte sich kurz in das Zelt hinein.
-----
Lea war nicht ganz mit den Gedanken bei der Sache, sicherlich war das Sextana nicht entgangen. Auch sie verschwand zu Sextana ins Zelt, als sie ihre Arbeit erledigt hatten. Es war sehr stabil errichtet und nicht zu fern, aber auch nicht zu nah an dem Treiben des Küchenzelts. Auf dem Boden sitzend legte Lea, die mittlerweile auch recht müde war, ihren Kopf auf den Knien ab. „Hast du Schmerzen? Du siehst gar nicht gut aus.“, hakte Sextana nach. Das Spitzohr blickte nur müde zur Magierin herüber, eine Antwort war nicht nötig – Lea merkte, dass der Rotschopf nur aus Höflichkeit fragte und die Antwort längst kannte. „Ich.. Wüsste nicht, wie ich dir helfen kann, außer..“, murmelte die Magierin dann in sich hinein und begann in der Tasche zu kramen. „Hier“, sagte sie und sah Lea eindringlich in die Augen, als sie ihr eine Feldflasche hinhielt. „Trink das. Es ist zwar kein Heiltrank, aber es ist gewissermaßen sogar.. Besser als das.“, sprach Sextana und Lea hörte die Unsicherheit in ihrer Stimme. Ob sie Sextana sagen sollte, worüber sie gerade nachdachte? Zögernd griff das Spitzohr die Feldflasche, um an der Substanz darin zu riechen. Starker Alkoholgeruch stieg ihr in die feine Nase, doch im Angesicht dessen, wie es ihr ging, nahm sie zwei große Schlücke des Rums an und reichte die Flasche dann zurück. „Vielleicht bin ich ein Trampel.. Nein, ich bin mir sogar sicher darin, aber.. Dich beschäftigt etwas und auch wenn ich dir kein guter Ratgeber sein werde, kannst du mir sagen, was es ist.“, sagte Sextana. Nein, die Magierin war ganz und gar nicht in ihrem Element. Lea brachte das zum Lächeln. Und als Sextana genussvolle Schlücke des Rums nahm, fasste Lea den Entschluss, nur ihr von ihren Plänen zu erzählen.
„Ich zweifel an meinem Nutzen für diese Gruppe. Nicht, weil ich schwach wäre, sondern, weil es sehr, sehr lange brauchen wird, bis mein Arm verheilt ist. Wenn jemand in Gefahr gebracht wird, weil er mich beschützen muss.. Das könnte ich mir nicht verzeihen.“, erzählte Lea und hob ihren Kopf. „Aber es ist mehr als das. Meine Gedanken kreisen um unsere ehemalige Gefährtin Taimi. Sie ist einfach gegangen, aber ich bin mir sicher, dass etwas Schlimmes geschehen ist.“, redete sie weiter. Sextana blickte nur aufmerksam in die hellgrünen Augen der Elfe.
„Ich denke, es hat einen sehr wichtigen Grund, dass Taimi ihre Mission aufgegeben hat. Sie war eine sehr ehrenhafte Elfe. Weil ich hier nicht von Nutzen bin.. Möchte ich zumindest dieser großen Sache auf die Spur kommen. Taimi kann meine Hilfe gebrauchen – und ich kann vielleicht noch von ihr lernen. Zum Beispiel darüber, was es heißt eine Elfe zu sein und über ihr Volk. Der Gedanke fühlt sich richtig an.“, erzählte Lea – ihre Augen schienen dabei zu leuchten.
„Aber.. Wohin wird es dich führen? Du wirst weit reisen, oder? Ich denke alleine ist das zu gefährlich..“, warf die rothaarige Magierin ein. „Ich bin nicht allein.“, sagte Lea und lächelte. „Mein Schatz Fermar wird mich begleiten.“
Sextana sagte daraufhin nichts. Sie nahm noch zwei Schlücke ihres Rums und verschloss die Flasche daraufhin wieder. Fräulein Karma kramte währenddessen in der Tasche nach den getrockneten Früchten, um sich damit den Bauch vollzuschlagen.
„Ich muss nicht alleine sein. Doch.. Ich denke, es wird sich schlecht anfühlen diese große Aufgabe zu vernachlässigen. Ich möchte nicht, dass sich jemand im Stich gelassen fühlt.“, sagte Lea. Lächelnd rückte Sextana etwas näher, wenn auch unsicher, und ergriff die Hand der Elfe. „Das werden wir nicht. Du bist freiwillig hier und das ehrt dich. Wenn du denkst, dass dein Weg allerdings ein anderer ist.. Dann ist das so.“, sagte Sextana. „Man wird dich missen, doch zieh deines Weges.“
Lea erwiderte das Lächeln und war sich jetzt sicher, die Richtige eingeweiht zu haben, auch wenn Sextana offensichtlich verunsichert über das Gespräch war. Schließlich besann sich Sextana wieder ihrer selbst und zog schnell die Hand weg, als hätte sie sich bei einer unguten Gewohnheit erwischt. Die Elfe blickte darüber gekonnt hinweg und sah zum Ausgang des Zeltes. „Mein Entschluss steht fest. Ich werde mir nur eine kurze Nachtruhe erlauben, dann verschwinde ich, bevor das Leben zurück ins Lager einkehrt.“, sagte Lea und schob ihr Gepäck in eine Ecke des Zelts. „Du willst dich nicht vor allen verabschieden?“, fragte Sextana. „Nein, würdest du das? Es gibt sogar jene, die es wahrscheinlich willkommen heißen, wenn ich gehe.“, murmelte Lea. „Bitte sag nur denen, die nach mir fragen sollten, dass ich meine Gründe habe.. Und auf ein Wiedersehen, irgendwann, irgendwo, hoffe.“, sprach Lea. „Bevor ich gehe, werde ich den Abend noch mit euch allen verbringen, ohne Abschied. Und wenn ihr alle erwacht.. Dann werde ich fort sein.“, erklärte sie. Dann bewegte sie sich zum Zeltausgang. „Lea?“, fragte Sextana dann. Als die Elfe sich noch einmal umwandte und die hellgrünen Augen den Rotschopf musterten, legte sich ein Lächeln auf beider Lippen. „Wenn du die Welt bereist, um diese Elfe zu finden.. Dann finde ich es schade, dass ich sie nicht kennenlernen durfte. Sie ist den Aufwand bestimmt wert.“, sagte Sextana und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Das ist sie.“, entgegnete Lea, „Ich hoffe dich eines Tages wiederzusehen, um wieder mit dir zu reden.. Und dir hoffentlich auch Taimi vorstellen zu können.“
„Das wäre wunderbar, Lea.“, sagte Sextana sanft und Lea verließ das Zelt.
Den Abend würde sie in Stille noch genießen, und wenn der Morgen hereinbrach..
Dann wäre sie fort.
-----
Der Rotschopf hielt noch eine Weile inne, um die Botschaft zu verarbeiten, die sie gerade bekommen hatte. Sie wären wieder eine Person weniger und Sextana hätte wohl keine Gelegenheit mehr, die einzigartige Elfe besser kennenzulernen. Bedauernd legte sie sich ihr Gepäck zurecht, um ihre Tasche mit nach draußen zu nehmen, nur gefüllt mit ihren Getränken und dem Essen Karma's. Sextana überlegte zweimal, ob sie die Geige mit heraus nehmen sollte, um am Lager ein Stück zu spielen, doch entschied sich vorerst dagegen. Sie würde lieber erst einmal das Lagertreiben genießen und genüsslich etwas Met und Rum trinken.
Also trat sie aus dem Zelt heraus und fasste den Entschluss, gut zu verhüllen, dass sie von Lea's baldiger Abreise gehört hatte. Trotzdem stimmte es sie ziemlich nachdenklich.. Und obendrein war sie überrascht, über sich selbst - waren all die Worte gerade wirklich ihr, einem sonst so unsensiblen Trampel, entwichen?
-----
(Trauerlied)
Die Regentin war es also. Das hatte Siviria in Enthaltsamkeit der Magierkaste getrieben. Es stieß der Kastenhöchsten Criaz übel auf, dass sie so lange toleriert hatte, dass die Kriegerkaste den Krieg anführte. Mit aufmerksamen Blicken starrte Criaz in die Augen der Menschenfrau.
Sie versuchte in dieser misslichen Lage einen Hoffnungsschimmer zu ergreifen, der sie und ihre Leute vor dem Aus bewahren würde, das sah man ihr deutlich an.
„Also.. Um das ganze zusammenzufassen..“, sagte Criaz und lächelte sadistisch, „Der Regent ist tot, mit einem anderen wieder herum hat sich unsere Kriegerkastenhöchste einfach vermählt, daraufhin hat sie ihren Gatten erledigt und die Macht über die Stadt an sich gerissen. Und zu guter Letzt hat sie einen Pakt mit Menschengesindel geschlossen, um.. Gegen von jenen verwandtes Menschengesindel zu kämpfen. Und jetzt.. Jetzt seid Ihr der Schlüssel zum Frieden, ja?“, zählte die Blauhaarige auf. Ein kurzes Lachen entwich ihr, bevor sie lieblos das Kinn der Menschenfrau losließ. Am Himmel suchte Criaz kurz das Bild des Phönix, doch Pirijo schien ihren Posten verlassen zu haben. „Meine Herrin.“, hauchte eine unvorstellbar ruhige Stimme hinter ihr, gerade als Criaz sich Pirijo herbeiwünschte. Die zweite Kastenhöchste stelle sich neben Criaz und musterte eindringlich die Menschen, die sich hier tummelten. „Ihre Macht ist für Menschenblut von ungewöhnlicher Stärke. Wir können nicht mehr lange innehalten.“, sprach Pirijo. „Es sterben mehr Elfen, als es nötig wäre.“ Criaz hätte der Elfe zu gerne den Mund verboten, wenn ihre Stimme nicht so furchtbar besänftigend sein könnte. „Entweder, Ihr schließt Euch mir an und wir gehen weiter in die Offensive.. Oder wir versuchen es mit Verhandlungen.“, erklärte die Elfe. Criaz nickte nur und klatschte langsam in ihre Hände. „Du bist im denkbar Besten Zeitpunkt aufgekreuzt. Es wurde gerade richtig spannend!“, berichtete Criaz und grinste Pirijo unheimlich an.
Fragend sah Pirijo in die grünen, scheinbar seelenverschlingenden Augen der Kastenhöchsten.
„Ihr!“, schoss es plötzlich aus Criaz und sprunghaft zeigte sie auf die Menschenfrau am Boden. „Steht auf.“, sagte sie und reichte ihr die Hand. Als sie sie dort so hinhielt, sah es nicht nur wie eine freundliche Geste aus. Es wirkte wie eine Einladung, sich dem Teufel anzuschließen.
„Bevor wir es auf unsere Weise angehen... Sollten wir es erst mal auf die menschliche, schwächliche Art versuchen. Reden wir mit Eurem Onkel.“, sagte Criaz grinsend. „Doch auch wenn das unser Krieg ist, seid Euch dessen Bewusst, dass die Verhandlungen auch über Euer Schicksal entscheiden.“, fügte sie sadistisch vorfreudig hinzu.
Pirijo machte währenddessen ein Handzeichen zu den Truppenführern und verschwand kurz in der Menge, um bekanntzugeben, dass das Feuer eingestellt werden sollte. Innerhalb von wenigen Augenblicken bildeten sich immer und immer größere Barrieren, magischer Natur, um solange es noch standhalten konnte, das feindliche Feuer abzuwehren.
„Wir haben nicht viel Zeit.“, sprach Pirijo, als sie wieder aus den Reihen zu Criaz trat. „Was auch immer ihr gedenkt, ihm zu sagen, wir werden Euch nicht alleine gehen lassen.“, sprach Pirijo nun ruhig an die Menschenfrau gerichtet. „Helena, ihr werdet ein Boot bekommen und Kastenhöchste Pirijo wird die Verhandlungen begleiten. Sollte das Boot abgefeuert werden.. So könnt ihr die Verhandlungen als erledigt ansehen.“, klärte Criaz auf. „Das ist Eure Chance, uns zu beweisen, dass Ihr kein lügendes Gesindel seid.“
Entschlossen, doch angespannt organisierte Pirijo bereits ein kleines Boot, um das größere Schiff zu erreichen. Sie hoffte inständig, dass sie nicht ohne einen würdigen Kampf sterben müsste. „Bereit für die Verhandlungen?“, rief sie in die Menschenreihen. Pirijo fühlte sich wie in einem schlechten, wahnwitzigen Traum, in dem sie ihr Leben ernsthaft in die Hand einiger fremder Menschenbruten legte. Würde sie das bereuen? Obwohl sie die Kastenhöchste einer Übermacht war, so zweifelte sie an dem Plan, auf einem kleinen, hölzernen Boot auf den Feind zu zu rudern. Lieferte sie sich gerade ehrlosen Mördern aus, oder könnten sie wirklich eine erfolgreiche Verhandlung mit einem Menschen führen?