Ayura war verblüfft über die Wendung der Ereignisse. Und verängstigt. Dass die Stimme der Covende so klar wusste, was dort draußen vor den Stadtmauern vor sich ging, hätte sie nicht erwartet. Aber noch schlimmer war die Tatsache, dass sie die ganze Zeit über Recht behalten hatte. Sie hatte ihre Vorahnung, ihr Gespühr für die kommenden Ereignisse heruntergespielt, in der Hoffnung es würde schon nichts so schlimmes sein. Doch sie hatte von Anfang an Recht behalten, wenn sie die Empfindungen darüber ungeschönt in ihr Gedächtnis rief.
Und jetzt, wo die dai'Amari ihre Aufmerksamkeit völlig von ihr abgewandt hatten, fühlte sie sich verloren, alleingelassen. Was auch irgendwie durch die Tatsache untermauert wurde, dass Ayura ganz allein am Fuße des Turmes stand und die dai'Amari umherliefen, scheinbar ziellos und unorganisiert, aber wenn man genau hinsah erkannte man die Berechnung und die Zielstrebigkeit ihn ihren Bewegungen wieder. Hie und da stießen sie Ayura leicht zur Seite, während selbige nun nur noch an Flucht dachte. Wenn sich dieser Ort in einen Schauplatz des Krieges verwandeln würde, dann wäre dies der letzte Ort, an dem Ayura sich aufhalten mochte. Verzweifelt versuchte sie herauszufinden, wo sie hingehen musste, um zu den anderen zurückzugelangen. Doch die hochragenden dai'Amari, die nun immer mehr wurden, nahmen ihr die Sicht.
Mit einem Mal erstarb die Szenerie. Nicht, weil die dai'Amari halt machten um etwas zu bestaunen. Denn es waren nicht nur selbige, die erstarrten. Es war alles. Die schwarzen Roben waren wie versteinert und selbst der Himmel bewegte sich nicht mehr. Die Vögel, die vor dem Feuer flohen hingen reglos in der Luft. Die Zeit war stehengeblieben.
Was war hier los?
"Tempus Fugit", sagte eine tiefe, dunkle Stimme in ihrem Geist.
Ayura sah sich um. Einer der dai'Amari war nicht versteinert, sondern ging von diesem Ereignis unbehelligt durch eine Lücke auf Ayura zu.
"So nennen die Daru'Kin diese Fähigkeit, die ich soeben angewandt habe. Mich überrascht nur, dass du auf Anhieb im Zeitverzerrungsfeld gelandet bist, wo ich dich doch nicht mal berühre."
"Wer bist du?", fragte Ayura mit zittriger Stimme. Sie erkannte den dai'Amari als denjenigen wieder, der ihr bei der Statue zugezwinkert hatte.
Als Antwort darauf verschwand die Illusion, die ihn umgab.
Die Robe verschwand und ließ eine schwarze, filigran gearbeitete leichte Plattenrüstung zurück, die mit seltsamen Symbolen und silbernen beschlägen verziert war. Nach unten hin wandelte sich die Rüstung in einen langen, teils ausgefransten Mantel. Überall waren Schädel eingraviert oder als Miniaturen in Silber eingearbeitet. Doch das hervorstechendste war die weiße Maske, durch dessen Sehschlitze nur die schwarzen Augen zu sehen waren, deren Iris violett war.
Der Weltenwandler stand nun vor ihr.
"Keine Sorge, kleine. Ich bin hier um dir zu helfen.", sagte er und es klang dabei, als würde er gleichzeitig in ihrem Kopf, als auch normal mit ihr sprechen.
Er blickte zum flammenden Horizont. "Fürs erste jedenfalls. Ich fürchte ich muss danach noch etwas erledigen, bevor ich weiterziehen darf."
Ayura starrte seine Augen an, die das einzige waren, das etwas von seiner Natur preisgeben konnte.
"Was bist du?", wollte sie wissen.
"Du hältst deine Fragen nicht lange zurück, bevor du sie auch tatsächlich stellst."
Die Feststellung hatte einen leicht bitteren Beigeschmack. "Typisch Daru'Kin. Ich bin ein Vaashjpriester. Ein Diener der Göttin der Finsternis. Früher war ich ein mal wie du. Etwas älter, aber ebenso wie du ein Daru'Kin. Der erste in der Welt aus der ich stamme. Bis ich irgendwann die falsche Entscheidung getroffen habe und sich mein inneres Gleichgewicht zu dem dunklen Extrem hingewandt hat. Jetzt gibt es die Welt aus der ich stamme nicht mehr. Und ein paar andere auch nicht."
Die Art und Weise, wie er es sagte, klang eher wie ein Scherz. Aber Ayura wusste, dass er die Wahrheit sagte. Sie bekam eine Gänsehaut.
"Ich vermute mal, ich bin hierher geschickt worden, damit das selbe nicht auch mit dir und deiner Welt passiert.", fügte er trocken hinzu und spielte dabei beiläufig mit seiner Sense.
"Wie soll das gehen?", meinte Ayura verdutzt. Sie wusste, dass sie eine gewisse Macht besaß, aber ihre Welt vernichten? Selbst wenn sie es wollte, wäre sie wohl kaum dazu in der Lage.
Der Vaashjpriester lachte leise. "Die Empfindung des Ärgers, die du hattest, als du die Statue vor der Bibliothek zerlegt hast, erinnerst du dich noch?"
Ayura nickte. Ein unschönes Gefühl.
"Das ist deine dunkle Hälfte gewesen. Deine dämonische Hälfte. Daru'Kin sind Halbdämonen, meine kleine."
Ayuras Augen weiteten sich.
"Und deine Fähigkeiten sind gerade mal die Spitze des Eisbergs. Mit der Zeit wirst du noch viel größere, viel mächtigere Künste erlernen. Und ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich dir sage, dass das, was du vorhin empfunden hast für einen Daru'Kin ganz normal ist. Diese dunkle Seite ist ein natürlicher Teil von dir. Wichtig ist nur, dass du das Gleichgewicht hältst. Unterdrücke diesen Teil von dir nicht, denn dann staut sich die negative Energie in dir auf und übermannt dich. Lass sie aber auch nicht zu oft raus, sonst wird es zur Gewohnheit. Gib deiner dunklen Hälfte ab und zu einen Keks und kraul sie hinterm Ohr, dann solltest du keine Probleme haben."
Die saloppe Art, mit der er ihr dieses Wissen übermittelte, konnte über das Gewicht des Inhaltes nicht hinweg täuschen. Vieles ergab nun noch mal um vieles mehr Sinn als vorher.
Der Vaashjpriester sah wieder zum brennenden Horizont.
"Es ist eigentlich nicht nach meinem Geschmack, aber für Daru'Kin ist es oft am besten, wenn man sie ins kalte Wasser wirft. Ich fürchte, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass du an der Schlacht in gewisser Weise teilhaben wirst." Er sah wieder zu ihr herüber und griff in seinen Mantel. Kurze Augeblicke später holte er einen weiß-goldenen Gegenstand hervor.
"Deinen Arm bitte.", gab der Vaashjpriester ihr zu verstehen und sie tat wie geheißen.
"Diese Manschette wird deine Kräfte kanalisieren und verstärken. Zusätzlich bildet sie ein Schutzfeld um dich und nötigenfals auch um Verbündete. Setzte sie weise ein.", sagte er und legte den Gegenstand um ihr Handgelenk. Es passte sich auf Magische art und weise an ihr Handgelenk an. Obwohl Magisch für sie nicht der passende begriff dafür zu sein schien. Als die Manschette saß, fing der darauf befindliche Kristall an in Ayuras Energie zu pulsieren und erfüllte sie mit wärmender Kraft.
"Aber gib acht, auch damit kannst du dich verausgaben. Und pass auf, dass du nicht die falschen in die Luft jagst.", fügte er mit einem Zwinkern hinzu.
Er richtete sich wieder auf und die Illusuion um ihn herum begann wieder zu wirken.
"Ich muss los, die Zeitverzerrung hält nicht lange an. Ich werde nach Kräften darauf achten, dass dir und deinen Leuten nichts passiert."
"Warte!", rief Ayura noch hinterher. "Wie lautet dein Name?"
Der Vaashjpriester zögerte kurz. "Man nennt mich wegen meiner Taten Onikui. 'Dämonenverschlinger'.", sagte er und mit diesen Worten war er in der Menge verschwunden und die Zeit begann wieder ihren Lauf zu nehmen.
Dämonenverschlinger... Jetzt wusste sie, weshalb er in der Lage gewesen war seine eigene Welt zu vernichten. Sein Rat war hilfreich gewesen. Dennoch war Ayura in Sorge, mit ihr könnte das selbe geschehen. Nachdenklich sah sie auf ihre Manschette, während um sie herum die Vorbereitungen im vollem Gange waren.