Mit verschränkten Armen saß Taimi dort und betrachtete jeden Einzelnen in der Halle.
Sie würde nie verstehen, wie diese Wesen so viel unbegründeten Hass empfinden konnten. Dabei verspürte manch einer Hass und hielt sich damit für ein starkes Wesen, doch Taimi schüttelte bei solchen Gedanken nur den Kopf. Hass, Hass war die wahre Schwäche. Die einzig wahre Schwäche, die einen kopflos machte, die einen angreifbar machte, die einen gegen die Wand rennen ließ. Wie weit kam man damit? Niemand war eine Insel. Bei dem Schauspiel in der Halle fing Taimi an zu lächeln, nur schwach, aber es war untypisch - normalerweise hätte sie ihr Schwert gezogen, und sich eingemischt. Jetzt aber saß sie nur dort, bei Yoko - einem Wesen, bei dem Taimi sich nicht einmal sicher war, ob sie soetwas wie puren Hass überhaupt empfinden konnte. "Vielleicht sollten sie sich an dir wirklich ein Beispiel nehmen.", sagte die Eiselfe, und ihre Miene wurde wieder finsterer. Yoko, die Taimi's Gedanken wohl kaum lesen konnte, blickte nur fragend drein, konnte sich aber bei Taimi's Blick nach drüben schon denken, worauf sie hinaus wollte. "Du, Taimi?", fragte Yoko jetzt - sie wirkte immernoch völlig schläfrig, schon den ganzen Mittag hatte der Waldgeist nichts anderes getan, als träge herumzuliegen. Das war durchaus untypisch und besorgniserregend, als Taimi jetzt genauer darüber nachdachte. "Ja, Yoko?", erwiderte sie also mit skeptischem Blick.
"Du hast mir versprochen, dass wir gemeinsam nach Chantrasam zurückkehren werden.", sagte Yoko, und winzige, glänzende Tränen lösten sich aus ihren Augen. "Das werden wir, Yoko!", sagte Taimi und verstand nicht. "Meinst du, wir kriegen das irgendwie auf die Schnelle hin?", antwortete der kleine Waldgeist und stand aus dem roten Schal Taimi's auf, eher zögerlich, schwach, völlig ungewöhnlich. Ihre Flügel bewegten sich dabei kein bisschen, sie lagen fest an. "Ich meine nur.. Ich würde gerne mit dir heimkehren.", sagte sie mit schwächlichem Lächeln, "ich.. Ich habe das Gefühl, das bleibt uns jetzt verwehrt.", sprach sie weiter. Ihre Schritte auf Taimi's Arm zu, der auf dem schweren Tisch ruhte, sahen wackelig und unkontrolliert aus. Die Eiselfe verstand nicht, was vor sich ging. Und wieso sprach Yoko so eigenartig? Was ging nur in ihr vor?
"Nein, was redest du denn da?", antwortete Taimi, und allein schon weil sie ihre jahrelange Begleiterin weinen sah, füllten sich auch ihre Augen mit Tränen. "Wir werden Chantrasam wiedersehen, ganz sicher!", hing sie hinterher.
"Ja, das glaube ich dir.", entgegnete Yoko. Kaum hatte sie den Arm der Elfe erreicht, gaben ihre Beinchen nach und der Waldgeist stützte sich an dem bleichen, aber warmen Arm der Chantrasami. "Aber wir werden es nicht gemeinsam wiedersehen.", erzählte sie. Taimi's Augen starrten ungläubig drein. Es gefiel ihr nicht, wie sich das ganze entwickelte, es gefiel ihr nicht, dass der Waldgeist so leblos erschien.
"Wir werden uns dort wiedersehen, daran glaube ich fest.", sagte Yoko. Sie schob sich das lange, schwarze Haar aus dem Gesicht und sah hinauf zu Taimi, die jetzt reagierte und ihre Freundin vorsichtig in ihre Handfläche legte. "Du bist so warm.. Wie die Sonne, die einst unser Land belebte.", murmelte Yoko und legte eine Wange auf die Haut der Chantrasami. "Taimi, etwas geschieht, und ich weiß nicht, warum oder wozu, aber meine Wache über dich neigt sich dem Ende zu.", sprach der Waldgeist. Die Tränen des Wesens spürte Taimi auf ihrer vergleichsweise dicken Haut kaum, so winzig war alles an diesem Wesen. Das Ende ihrer Wache.. "Du warst mir eine gute Meisterin, Taimi, und ich werde niemals die Schlachten vergessen, die wir gemeinsam geschlagen haben.", sagte der Waldgeist. Taimi's Tränen nahmen freien Lauf und rollten über ihre glühenden Wangen. "Yoko, aber was bin ich schon ohne dich? Wir.. Wir werden gemeinsam heimkehren, und dann wird alles wieder gut, hörst du?", sagte Taimi stur und stand auf. Mit der übrigen Hand wusch sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Sie sah auf die schwächelnde Yoko in ihrer Handfläche, und starrte dann in ihrer Umgebung jeden an, der sich in der Halle befand. Ihr strammer Schritt führte sie fort vom massiven Tisch, fort von den Anderen, selbst an dem Dämon, der sein Gegenüber niedermähen wollte, ging sie in großem Bogen vorbei, bis sie im Ausgang der Halle stehen blieb.
Mit Blick auf ihre Verbündeten schüttelte Taimi den Kopf - sie waren eine Ruine, und sie gaben sich keine Mühe, sie wieder herzurichten.
"Ihr, ihr alle, ihr seid schwach!", rief sie und hoffte, dass man ihr ein letztes Mal Gehör schenkte. "Hass ist schwach, Sturheit ist schwach, alles hier ist schwach!"
Taimi machte eine Handbewegung, als wollte sie jeden aus dem Raum anvisieren. "Wenn ihr nicht lernt, gemeinsam stark zu sein, werdet ihr nichts von alledem erreichen, was ihr euch vorgenommen habt!", schrie sie, und als sie sich umdrehte, kullerten ihr Tränen vom Gesicht - nicht etwa, weil der Chaoshaufen hinter ihr es nicht schaffte, sich am Riemen zu reißen, sondern weil sie sich dieser wichtigen Aufgabe abwenden musste, um ihr Heimatland zu erreichen. Während Taimi schnellen Schrittes in den Gängen des Tempels der Seraphen verschwand, begann Yoko, immer flacher zu atmen. Es durfte nicht einfach ohne Grund enden! Es musste etwas geben.. Etwas, was Taimi dagegen unternehmen konnte!
Als die Eiselfe mit dem Waldgeist in ihrer Handfläche draußen vor den Toren der Seraphen ankam, sah sie Yoko mit flehendem Blick an. "Mach eine Pause.. ich möchte dir noch ein paar Dinge sagen.", sprach Yoko und wusch ihre Tränen aus dem Gesicht. "Wenn ich nur wüsste, wieso es jetzt so kommen muss, ich würde es dir sagen!", sagte der Waldgeist mit traurigem Gesicht. "All diese Dinge, die kannst du mir noch sagen, wenn wir in Chantrasam sind!", flehte Taimi und ließ ihren Tränen wieder freien Lauf. "Nein, bitte seh das ein, denn uns rennt die Zeit davon. Höre mir zu, ja?", fragte Yoko und Taimi antwortete mit einem widerwilligen Nicken. "Ich werde jetzt den Weg gehen, den ein Waldgeist nach Erfüllung seiner Wache geht, und daran führt kein Weg vorbei. Hörst du es nicht? Sie rufen mich!", sagte Yoko, und lächelte schwach. Taimi hörte nichts. "Die Dryaden wollen mich empfangen!", sagte Yoko. "Sei nicht traurig, Meisterin.", flehte Yoko. Dabei flossen selbst ihre Tränen, was sich nicht ganz mit ihrem Lächeln vertragen wollte. "Yoko, ich dachte, wir hätten noch viel mehr gemeinsame Jahre..", sagte Taimi. "Du bist seit siebenundreißig Jahren meine Begleiterin.. Und jetzt, jetzt soll ich einfach ohne dich weitergehen?", schluchzte sie. "Wer weiß, wohin mich die Dryaden leiten! Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, wenn unser Land erlöst ist. Vielleicht wirst du mir begegnen!", sprach Yoko schwach. "Ich.. Ich hoffe es!", schluchzte Taimi und sah ihre Freundin eindringlich an. "Vielleicht, vielleicht wirst du eines Tages ja meine Meisterin sein, wenn du als Dryade heimkehrst!", sagte Taimi und versuchte sich selbst einen Trost einzureden. "Das.. Das würde mir gefallen.", entgegnete Yoko lächelnd. "Meine Zeit ist gekommen..", sagte sie, und ihr Lächeln erlosch nicht. "Nein! Ich habe dir noch so viel zu..", sprach Taimi, doch als sie in ihre Hand blickte, zerfiel der Körper ihrer Freundin zu.. Erde. Taimi drückte die geschlossene Hand, in der nurnoch Erde übrig war, fest an ihre Brust. Sie wollte schreien, doch nichts entwich ihrer Kehle.
Ihr Kopf schmerzte längst, weil sie zu viele Tränen vergossen hatte, und ihre Augen brannten, während ihnen immer und immer mehr Feuchtigkeit entwich.
Als sie ihre Hand zurücknahm und öffnete, lagen darin nur noch dunkelrote Blütenblätter..
Mit dem Entschluss, dass Taimi den Grund für Yoko's plötzlichen Abschied in Erfahrung bringen musste, stand sie mit wackligen Beinen auf und ließ die Blütenblätter los. Sie sah ihnen noch einige Momente zu, wie sie mit einem lauen Windzug in die Umgebung flogen, und machte sich dann auf den Weg zurück zum Hafen..
Das Büchlein der Eiselfe lag neben dem roten Schal noch immer auf dem steinernden Tisch in der Halle. Die Seite mit der verträumten Zeichnung der Eiselfe war noch immer aufgeschlagen.
Taimi hätte ihnen allen noch zu gerne gedankt.. Für die Zeit der Gemeinschaft, für diese Erfahrungen. Vor allem wollte sie Alexis und Haj'ett für ihre Erzählungen danken, zumal sie am meisten Zeit mit ihnen verbracht hatte.. Doch dazu würde sie nicht mehr kommen.