Auf dem Markt war Sextana die meiste Zeit damit beschäftigt, ein Auge auf Fräulein Karma zu haben, und sich mit etwas Rum auf das folgende Ereignis einzustimmen. Etwas ungeduldig und gelangweilt beobachtete die Magierin das zukünftige Ehepaar dabei, wie sie die Erledigungen für die Trauung machten. Sie wollte endlich sehen, wie die Zeremonie Haj'etts aussehen würde. Euphorisch verfolgte Sextana Haj'ett auf der Suche nach dem richtigen Platz für die Ehe, als es bereits dunkler wurde. Für die Heilerin ein Segen, denn sie hatte sich an diesem Tag schon viel zu lange der Sonne ausgesetzt. Haj'ett hatte ein gutes Auge für Dinge wie diese, und Sextana fragte sich eher beiläufig, woher das kam. Sie genoß den Ausblick, den sie vom Tempel aus hatte. Doch dann begann die Zeremonie und Sextana folgte Lea und Fermar, um sie später mit etwas Abstand die Treppen hoch zu folgen. Als es soweit war folgte Sextana den Beiden, die ihr eigentlich so unfassbar fremd waren, mit der Kiste, die Haj'ett ihr mitgegeben hatte.
Umso mehr Dank empfand sie dafür, dass sie dabei sein konnte. Als sie am improvisierten Tempel Haj'etts ankamen, stellte sich Sextana stumm in den Hintergrund. Versunken starrte sie in das Feuer, das in der Schale wild flackerte, und wartete darauf, dass Haj'ett das Wort ergriff. Es war ein packender Moment für Sextana, obwohl sie noch keinerlei Verständnis und Erfahrung über jene Gefühle gesammelt hatte, die die beiden zukünftigen Eheleute verbanden. Die Magierin fand es unheimlich entzückend, dass Haj'ett sich auf die Zehenspitzen stellte, um Lea die Kette umzulegen, doch ehrfürchtig schwieg Sextana und sah aufmerksam zu, wie die Zeremonie von statten ging, bis Haj'ett sie heranwinkte und sie die Kiste für Lea und Fermar öffnen ließ.
Als der Echsenmensch die Ringe an sich genommen hatte, stellte sich Sextana abermals zur Seite und schwieg. Sie genoß es, sich diesen Beweis der Liebe dieser Beiden anzusehen, doch gleichzeitig fragte sie sich, wieso sie noch nie in der Lage dazu gewesen war, sich einem anderen Wesen gegenüber derart zu öffnen.
Vielleicht lag es nicht an ihr, vielleicht aber war sie bisher mit verschlossenen Augen vor allem weggerannt, das Vertrauen als Anlage brauchte.
Sextana schüttelte den Kopf und versuchte sich auf die Zeremonie zu konzentrieren, die Haj'ett so vollkommen und gekonnt leitete.
Es war verrückt, doch die Magierin empfand etwas wie Glückseligkeit, allein bei der Freude für das Ehepaar, das sie gar nicht kannte. Und trotzdem fühlte sich Sextana eigenartig dabei, ihnen zuzusehen, und als sie sich küssten, sah Sextana weg und starrte auf die Kiste zu ihren Händen, in der Hoffnung dass es nicht auffiel. Dann war es vorbei, und sie atmete auf.
Eine gewisse Anspannung ließ Sextana jetzt los, und sie stellte eilig das Kistchen ab, als Fräulein Karma auf sie zu stürmte. "Ich bin stolz auf dich, du hast dich wirklich gut benommen.", sagte Sextana ihrem Kapuzineräffchen, das jetzt die Arme um ihren Hals schlang, als wären sie für Jahre getrennt gewesen. "Du brauchst dich nicht zu fürchten, ohne dich geh ich nirgendwo hin, siehst du?", murmelte sie und strich Fräulein Karma über den Rücken. Zufrieden löste sich das Äffchen wieder und nahm die Gegend um sie herum unter die Lupe. So etwas war nicht nur neu für Sextana, sondern ebenso für ihre tierische Begleitung.
Mittlerweile war es ziemlich dunkel und Sextana fragte sich, ob die Gruppe bei den Seraphen hauste. Und die nächste Anspannung machte sich in der Magierin bereit, als sie an den nächsten Tag dachte. Wohin brachen sie überhaupt auf? Tatsächlich holte sie jetzt die Angst ein, die sie vorhin noch unterdrückt hatte, als Lea ihr sagte, dass sie wahrscheinlich am Ende nicht lebend zurückkamen. Sextana zupfte nervös an ihrem Unterbrustkorsett und ihre Augen suchten fragend nach nichts Bestimmten.
"Uhmm..", fing sie an, als die Stille ihr langsam unangenehm wurde, "Vielleicht möchte jemand von euch mir ja erzählen, wohin wir morgen aufbrechen und wieso, wenn ich doch nun zu euch gehöre...", sagte sie verunsichert und suchte nach einem Gesicht, das sie Willkommen hieß. "Außerdem stellt sich mir die Frage.. Ob wir hier die Nacht verbringen."
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Trauerlied
Als Siviria inne hielt, um den Schnee auf ihrem weißen Gesicht zu spüren, wurde ihr bewusst, dass sie sich nie wieder zuhause fühlen würde, wenn sie erst einmal an Stenian gebunden war. Seine Hand zog sie weiter, als ihre Füße im weißen, kalten Mantel Chantrasams versanken. Die Magie des Augenblicks wich sofort wieder, noch ehe sich die Eiselfe daran laben konnte.
Wie eine Liebhaberin, die sich von ihrem Liebsten trennen musste, starrte sie gen Himmel und genoss die Schneeflocken, die auf ihrem Gesicht sofort schmolzen.
Den zukünftigen Herrschern folgten jetzt nicht nur Geiger und Garde auf dem Rückweg, sondern eine große Schar Bürger folgten ihnen, die tuschelten und neugierige Fragen in die Runde warfen. Siv fühlte es, wie Blicke ihren Rücken durchbohrten, jeder von ihnen ein Stück Abscheu dafür, dass sie eine Eiselfe war. Manche klangen wütend, manche voll Sorge, und manche euphorisch, denn die Verkündung eines neuen Regenten brachte angeblich stets ein großes Fest mit sich.
„Stenian?“, fragte Siv, tatsächlich empfand sie Angst. Sie fühlte sich nicht sicher, nein, sie fühlte sich plötzlich schwach und erschöpft. Die Maske die sie trug, forderte die Meisterin der Infiltration mehr denn je, denn statt unentdeckt zu bleiben, stand sie jetzt im Mittelpunkt.
Sie durfte nicht versagen, die Anstrengung zeigen, die diese Maske mit sich brachte -
Jeder sah sie an, jeder suchte nach dem ersten Stück von ihr, das sie bis aufs Kleinste zerreißen konnten. Siviria war sich trotz der Garde nicht einmal sicher, ob man ihr nicht jeden Moment dieses Weges eine Klinge durch den Leib drücken könnte. Niemand war dort, dem sie vertrauen konnte.. Außer..
„Ja?“, erwiderte Stenian und blickte erst das Schloss vor ihnen an, dann Siv in die Augen.
„Wenn es schon bekannt gemacht wird.. Könntet Ihr..“, fing sie an und blickte dem Menschen tief in seine Augen. „Könntest du veranlassen, dass meine Begleiterinnen aus ihrem Umfeld befreit werden, um mir besser beistehen zu können?“, fragte Siviria schließlich.
Viel zu lange spielten sie mit, und mehr denn je konnte Siv ihre Untergebenen gebrauchen.
„Wenn es dir so wichtig ist.. Von mir aus. Ich hoffe, du weißt sie unter Kontrolle zu behalten.“, entgegnete der neue Regent Trauerlieds.
Siv nickte und hielt sich fester an dem Arm ihrer letzten Hoffnung fest.
In der Morgendämmerung traten sie durch das schwere Tor des Schlosses, indem nun völlig eiliges Treiben herrschte. Dienerinnen trugen Dinge von A nach B, offensichtlich wurde ein Bankett zur Verkündung des neuen Regenten vorbereitet. Stenian war scheinbar auch längst mit den Gedanken bei diesem wichtigen Ereignis. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen, denn auch wenn er sowieso schon rechtmäßiger Regent über Trauerlied war, dadurch, dass Extan keine Kinder gezeugt hatte, so hatte er schon Tage zuvor über einige Änderungen geredet, die er vornehmen würde, wenn er ein Regent wurde.
Bei dem Gedanken daran fuhr Siv ein kalter Schauer über den Rücken, denn diese Änderungen waren so rapide, dass viele Menschen Trauerlieds in Probleme geraten konnten, und ohne wütenden Mob könnte dies nicht von Statten gehen. Und das Bankett? Eine weitere unnütze Vorbereitung, denn wenn Stenian erst einmal verkündet hatte, was er eben zu verkünden hatte, dann würde jenes nicht mehr möglich sein. Schließlich wandte sich Stenian auf ihrem Weg zuerst an einen der Männer seiner Garde, und besprach mit ihm irgendetwas, was Siv nicht verstehen konnte. Dann war er endlich fertig, und Siv konnte Abstand zu den neugierigen Leuten gewinnen.
Ihre Schritte führten sie die zwei die mächtigen, breiten Treppen hoch, eine ganz andere Richtung als die, in die sie sonst zu Stenian's Gemach gingen. „Wir werden Herrscher sein. Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich noch eine weitere Nacht in diesen heruntergekommenen Wohnräumen schlafen lasse?“, fragte Stenian als er Siv's fragenden Gesichtsausdruck sah und räusperte sich. Siviria fragte sich, wieso Stenian es so eilig hatte, in allem was er tat der Regent zu werden. Befürchtete er, dass ihm jemand wegnehmen konnte, was er erlangt hatte? Oder... Oder hatte es mit Valos zu tun?
Auf dem Weg in das neue Gemach sah Siv einige Diener, die davon huschten. Offensichtlich hatten sie während ihrer Abwesenheit unter Zeitdruck das Gemach hergerichtet und mit Stenian's Besitztümern gefüllt. Schweigend erreichten sie die Räume des Regenten und Stenian deutete zufrieden auf die Türklinke einer massiven Tür, sodass Siviria die Freiheit blieb, als erstes einen Blick zu erspähen. Siv hielt inne und atmete tief ein. Dann öffnete sie die Tür, trat ein paar zögerliche Schritte in die Räumlichkeiten und sagte nichts.
Es war viel heller als das düstere Gemach Stenians. Die Fenster beleuchteten jeden Winkel, und die weißen Vorhänge flatterten, weil ein paar von ihnen offen standen. Auch der Boden hatte einen hellen Teppich und nur die Möbel bestanden aus dunkleren, teuren Hölzern. Siviria mochte es, denn die Helligkeit und der hervorragende Ausblick auf die Schneelandschaft hinter den Mauern, hinter dem Schloss, die erinnerte sie an ihr Zuhause. Es löste Sehnsucht in ihr aus.
Rechts und links gingen die Wohnräume weiter, und Siv betrachtete jeden von ihnen. Ein Esszimmer, das für bis zu zehn Leute gereicht hätte, dazu ein großes Zimmer zur Wäsche und das Schlafzimmer.. Es sah gemütlich aus. Stenian interessierte sich vorerst nur für sein Büro, doch es war nicht viel Zeit um hier zu verharren.
Während Siv auf dem gemütlichen Bett saß, und sich fragte, ob sie sich jemals an diesen Schnickschnack gewöhnen würde, trat auch Stenian in das Schlafgemach und warf seinen Mantel über einen Schrank. „Wir haben keine Zeit. Man erwartet uns bald im Thronsaal.“, sagte Stenian. Dann ging er zu ihr herüber, nahm ihre Hand unerwartet sanft und kniete sich vor ihr auf den Boden. „Ich weiß, dass du dir nicht ausgesucht hast, dass es so laufen würde.“, sagte er. Siviria tat es sich schwer, dem Menschen nicht mit Hingabe zuzuhören. Er klang so anders, so fürsorglich, dass sie ihm schwer nachtragen konnte, wer er war, in was für eine Situation er sie gebracht hatte, und dass sie ihn nicht heiraten wollte.
„Doch ich verspreche dir, dass ich Trauerlied zu einem Ort machen werde, an dem Elfen als Bewohner geduldet werden.“, sagte er. Siviria schüttelte den Kopf. Etwas in ihr kochte hoch, was sie schon ihr Leben lang, das sie der Kriegerkaste gewidmet hatte, gefühlt hatte.
„Geduldet!“, sagte sie und lachte laut. Daraufhin wurde ihr Blick wieder ernster, er wandte sich auf den Mann, der vor ihr kniete. Wenn sie ihn in der Nacht einfach getötet hatte, als er sie bat, neben ihm zu schlafen, dann hätte sie das alles unterbunden. Doch wäre das richtig gewesen? Wo stünde sie dann jetzt? Ihr Volk?
Und wenn sie jetzt ihre Hände um seine Kehle geschlossen hätte, und ihn dort unten auf dem Boden erwürgt, was wäre dann geschehen? Alles wäre zusammengebrochen, alles. Was wäre aus ihr geworden? Vielleicht hätte man sie sofort umgebracht, einfach, weil sie keinen Nutzen gehabt hätte.
„Unser Volk zu dulden, in seinem eigenen Land, in seiner Heimat, das ist wirklich wenig verlangt.“, sagte Siviria. „Es sollte selbstverständlich sein. Dein Volk.. Es kam, als wir friedlich im Einklang mit der Natur lebten. Ihr wart Gäste, nichts weiter. Wir duldeten euch alle.. Bis ihr uns versklaven wolltet, ausrotten wolltet, uns unsere Natur wegnahmt. Wenn eines Gerecht wäre, dann, dass wir Elfen die Freiheit unseres Landes zurückerlangen. Wenn es nur eines Gäbe, was hier noch Gerecht sein könnte, so wäre es, dass die Seelenkapsel unserer Magierkaste übergeben wird.
Ich kenne Chantrasam als das ewige Eisland. Es ist mein Zuhause, und wenn der Fluch gebrochen wird.. Dann wird mein Zuhause für immer in seine Ursprungsform zurückkehren. Doch.. obwohl es dann anders wäre, so wäre es mein Zuhause. Und wenn die Natur niemals Erlösung bekommt, so wird eines Tages vielleicht jeder hier dafür bezahlen. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Menschen und Elfen, denn jeder wird leiden. Unsägliche Qualen. Niemand wird jemals wieder glücklich werden, oder Hoffnung sehen, oder Mut empfinden.
Vielleicht.. Vielleicht werden wir die Freiheit unseres Landes nicht mehr herbeiführen..
Doch wir haben doch zumindest mehr verdient, als nur GEDULDET ZU WERDEN!“, sprach Siv und wurde dabei unkontrolliert laut. Es kam Siv vor.. Als würde das Geräusch der Ohrfeige, die Stenian beinahe zur Seite geworfen hätte, nachhallen.
Stille.
Stenian rieb sich die Wange und blieb auf Knien. Etwas Undefinierbares regte sich in seinen Augen. Er stand dennoch nicht auf, er blieb wo er war. Selbst jetzt ergriff er wieder die Hand, die ihn gerade noch geohrfeigt hatte. „Das wirst du nie wieder tun.“, sagte er. Seine Stimme war ruhig, doch Siviria wusste, dass sich etwas anderes in ihm regte.
„Wenn du mich betrügst, werde ich noch viel Schlimmeres tun.“, sagte Siv und stand vom Bett auf, um Stenian dort einfach stehen zu lassen. „Ich werde mich jetzt umziehen. Ich hoffe, ich finde etwas Würdiges für eine Feier der Menschen“, sagte sie und verschwand in dem Zimmer, dass sich als Umkleideraum herausgestellt hatte.
Es dauerte nicht lange, da trat Siv in einem weißen Kleid mit goldener Spitze aus der massiven Tür heraus, um sich neben Stenian in seinen Arm einzuhaken. Eher simpel geschnitten, war es immerhin besser als diese furchtbar breiten, pompösen Kleider, mit denen man durch kaum eine Tür gepasst hätte. Siv wollte sich in keinen unnötigen Schnickschnack zwängen, denn niemand wusste was sie bei der Versammlung erwarten würde. Den Dolch, den Siv sich sofort wieder zurückgeholt hatte, als Stenian ihn ihr einst abnahm, trug sie unter ihrem Kleid, eng an ihren Oberschenkel geschnürt, sodass man ihn möglichst wenig unter ihrem Kleid sehen konnte.
Sie verschwanden in den Gängen, und Siv atmete wieder voll Aufregung ein und aus. Ihre Brust bebte und Siviria fühlte sich gänzlich unwohl, bei dem Gedanken, wie viele Bürger Trauerlieds sich an diesem Tag im Schloss tummeln würden. In genauerer Überlegung fand Siv es klüger, hätte man die Bürger vor dem Schloss versammelt, denn ihnen die Tür zu öffnen damit sie im Schloss über die Entscheidungen des Regenten urteilen konnten, war keine sehr gute Idee. Doch die Tradition wollte es scheinbar so, und es blieb Siviria keine andere Wahl, als jene vorerst zu respektieren.
Bevor sie die Treppen erreichten hielt Siv inne, denn dort standen drei Gestalten, deren Gesichter zur Hälfte mit dunklem Stoff verdeckt wurden. Ihre Rüstungen blitzten nicht auf, wie die Stahlrüstungen der Wachen, sondern waren schwarz wie die Nacht. Das Leder war dick und lag so eng an, dass man drei weibliche Personen ausmachen konnte, die mit jeweils zwei dunklen Dolchen ausgestattet waren. Gab es bereits jetzt Abtrünnige, die Siv tot sehen wollten? Oder gar den neuen Herrn Regenten? Siv weigerte sich einen Moment weiterzugehen, und als wäre nichts, schaute Stenian Siv fragend an. „Oh, ich vergaß.“, sagte Stenian und zog Siv an der Hand auf die drei Gestalten zu. „Man hat sich sofort darum gekümmert, deinen Wunsch zu erfüllen.“, ergänzte er. Seine offene Geste deutete Siv, sich die Gestalten anzusehen.
„Ihr habt uns Sorgen bereitet, Kastenhöchste Siviria!“, tönte es unter einer der Masken hervor.
Die drei Wesen zogen ihre Kapuzen von den Köpfen und die Masken vor ihrem Mund weg, um Siv zu zeigen, wer sie waren. Siviria lächelte erleichtert, als sie sich als ihre drei Vertrauten entpuppten. Tatsächlich empfand sie so eine intensive Freude darüber, dass sie alle drei in ihre Arme schloss, als seien es ihre Kinder, die lange verschollen waren und plötzlich wieder zurück zu ihrer Mutter kehrten. Als sie sich wieder löste, blickte sie die drei eindringlich an. „Von jetzt an dürfen wir uns nicht voneinander trennen.“, sagte sie. „Es gibt so vieles, was ich Euch sagen muss, doch begleitet mich erst einmal, und sorgt dafür, dass keiner von den Menschen mein Vorhaben verhindert.“, sagte Siv und hakte sich wieder bei Stenian ein. Dann traten sie langsam die breiten Treppen hinab.
Es schlossen sich ihnen einige Männer aus Stenian's Garde dem Ganzen an, um sich gleichmäßíg um sie zu formatieren. Die Seite Siviria's wurde besonders geschützt, dadurch, dass ihre drei Vertrauen ihr nicht von der Seite wichen.
Und als die Eiselfe das andere Ende der Treppe betrachtete, wurde ihr klar, dass dieser Schutz auch nötig war. Zig neugierige Menschen tummelten sich dort, und als sie unten ankamen, musste die Garde erst Platz durch die Versammlung schaffen, damit Siv und Stenian ihr Ziel erreichten. Fragen wurden so durcheinander geworfen, dass man sich niemals einer Einzelnen hätte annehmen können. Mit roher Gewalt stießen die Männer der Garde die Leute weg, die sich selbst nach einer Zurechtweisung weigerten, aus dem Weg zu gehen. Es führte sie in den Durchgang zum Thronsaal, wo die Versammlung stattfinden sollte. Siv spürte, wie sie die Angst packte.
Eine Schlacht zu führen, war für sie nicht so gefährlich, wie ohne Rüstung und ohne Soldaten durch eine Meute zu treten, deren Absichten man nicht einmal kannte.
In der Angst griff ihre Hand die Hand einer ihrer Vertrauten, Corra, die sie eindringlich ansah, als sie die unverhoffte Berührung vernahm. Ihr Lächeln war wie Balsam für Siv. Obwohl sie ihre Kastenhöchste war, schämte sich Siv nicht für den Moment der Schwäche. Kein Eiself Chantrasams tat jemals das, was sie gerade vollbringen musste. Corra drückte sanft zurück, während Siv ihren Griff um den Arm Stenian's lockerte. Plötzlich konnte sie sich geborgener fühlen, jetzt, wo ihre Artgenossen ihr zur Seite standen. Ein dummer Plan, wie der Stenian's, hätte sie niemals so retten können, wie der Handdruck einer Eiselfe wie Corra. „Vertraut uns. Nochmals werden wir Euch nicht aus den Augen lassen.“, sagte Corra. Langsam lächelte Siviria auch, doch nicht weil ihre Maske für die Mehrheit es verlangte, sondern weil sie eine Sorge weniger hatte.
Die Musik, die im Thronsaal gespielt wurde, stoppte, als immer mehr Menschen hineinströmten, mit Siv und Stenian voraus. Erst, als der Regent Platz nahm und Siviria es ihm neben ihm gleich tat, wurde es plötzlich ganz still. Keiner rief mehr Fragen durcheinander, und Menschen von unterschiedlichsten Schichten blickten Neugierig auf die Personen, die jetzt die Thronplätze füllten, die dort oben gut sichtbar waren. Das Gefühl, das Siv erfüllte, als sie auf die Menschenmenge blickte, konnte sie kaum in Gedanken fassen. Adrenalin sorgte dafür, dass Siv nicht einen Muskel entspannen konnte.
Die Garde sorgte dafür, dass die Menschen von den Rednern abgeschnitten wurden. Niemand kam an Stenian oder Siviria heran, dafür wurde Sorge getragen. Und offensichtlich hatte der neue Regent schon vorab veranlasst, die doppelt und dreifache Menge von Wachen zu positionieren.
Ein Zug, den Siv jetzt wirklich zu schätzen wusste.
Nachdem Stenian einen Moment zum Verschnaufen hatte, erhob er sich und stellte sich vor dem Mob auf. „Eine traurige Nachricht hat uns erst vor wenigen Stunden erreicht. Gerade noch füllte die Lebensfreude unseres Regenten Extan Denimius die Hallen des Schlosses mit Lachen, und jetzt, jetzt sprechen wir von seinem Tode, davon, dass er leider, oder vielleicht zum Glück, keine Familie hatte, die ihn jetzt betrauern müsste.“, sprach Stenian. Alles war still, niemand sagte für diesen Moment etwas.
„Doch trotz dieser traurigen Kunde muss sich das Volk der Zukunft widmen, viel zu lange standen wir still. Unsere Einstellungen sind veraltet, unsere Lebensweise ist verwerflich.“, redete er weiter. Dabei begann er nach den richtigen Worten zu fischen und lief auf und ab. Langsam kam die Versammlung wieder ins leise Tuscheln zurück – dass man die Schwachpunkte einer Gesellschaft ansprach, kam natürlich nicht immer gut an. Lieber steckten sie ihre Köpfe in ihre Geschäfte und taten das, was sie am Besten konnten: Alles was mit Selbstkritik zu tun hatte zu ignorieren.
„Wie ihr alle wisst tritt sofort mein Amt als Regent Trauerlieds in Kraft.
Da ich dem Volk schon lange im Verborgenen diene, weiß ich was diese Stadt braucht. Die Komplikationen mit den Einheimischen sind bereits so weit, dass unser Heer sich versammelt hat um sie in die Knie zu zwingen. Jetzt gerade, in diesem Moment, schreiten sie für uns durch das uns so fremde Land, statt ihnen die Hand zu reichen und unser Volk zusammen mit den Chantrasami zu einer großen Macht zu verbünden.“, sprach Stenian. Leute fingen an in Frage zu stellen, sie murmelten immer aufgeregter durcheinander und schließlich klatschte Stenian in seine Hände, um für Stille zu sorgen.
„Niemand hat je die Möglichkeit in Betracht gezogen, in Frieden zu leben. Menschen und Elfen starben und das ohne einen nennenswerten Grund -
Elfen wurden versklavt und nie wurde in Frage gestellt, wieso es die Elfen waren, wieso sie zu unserem Vorteil ausgenutzt werden mussten. Scham und Einsicht, so etwas gibt es hier nicht! Das ist der Grund warum unsere Männer im aktuellen Krieg fallen werden.
Frauen werden ihre Kinder ohne Väter großziehen, früher oder später überrennen uns die Elfen und nichts, nicht was wir uns aufgebaut haben, wird jemals bestehen.“, hielt Stenian seine Rede an das Volk. Man spürte zunehmend, dass der Mob Dinge hörte, vor dem er Augen und Ohren verschlossen hatte und genauso weiter verschließen wollte.
Der Mob wurde zu einem Wütenden. Der Regent Trauerlieds, oder wie die Menschen ihn seit hunderten Jahren auch nannten, der Regent ganz Chantrasams, ließ sich von dieser Wut nicht ausbremsen.
„Fortan ist jeder Mensch, ob Bürger oder Besucher Trauerlieds, ein vogelfreier Mensch, wenn er sich noch einmal einen Sklaven nimmt. Wer es sich anmaßt, einen Menschen oder Elfen zu versklaven, und ohne den freien Willen und Bezahlung für sich arbeiten zu lassen, wird von den Wachen bei eindeutigen Anzeichen ohne Umschweife zum Tode verurteilt.“, sprach Stenian seine allererste Amtshandlung aus.
„Demnach ernenne ich jeden Sklaven, der sich in Trauerlied befindet, zu einem freien Wesen Chantrasams, welches denselben Schutz unserer Wachen erhält, wie es ein Mensch seit jeher tut!“, verkündete er. Die Meute brach in einer kaum zu übertünchenden Lautstärke in großen Diskussionen aus. Händler, hart arbeitende Bürger und Sklaven selbst redeten kreuz und quer durcheinander. Man konnte der Menge ansehen, dass sie sich fragten wie das Ganze klappen würde – für sie war es eine Beleidigung, plötzlich mit dem „Abschaum“ zusammenleben zu müssen. Die Menschen die sich auf ihre Arbeitskraft in Form von Sklaven verließen, würden jetzt definitiv eine andere, menschlichere Lösung finden müssen. Die größeren Händler könnten vielleicht sogar so aufgeschmissen sein, dass sie von ganz unten anfangen mussten.
Eine Stadt erbaut auf den Rücken der einheimischen Versklavten.
Ein Kartenhaus: Die unterste Karte wurde hinausgezogen.
Der Mob wurde immer unruhiger und bald versuchten die Ersten, sich durch die aufgestellte Garde zu drängen. Siv stand zügig auf und riss Stenian an seinem Arm in ihre Richtung. „Hast du dir auch überlegt, wie du die Bürger besänftigst?“, zischte sie ihn an, „Denn solch eine Nachricht in die Runde zu werfen und zu erwarten, dass hier kein Mord und Totschlag stattfindet, ist einfach nur naiv!“, schrie sie ihn an. Es war ihr egal, dass man sie dabei gut hören konnte, denn alle Anwesenden waren sowieso erpicht darauf, die Köpfe der Beiden rollen zu sehen.
„Beruhigt euch!“, rief Stenian ihnen entgegen – seine Hände machten beschwichtigende Bewegungen. Die Eiselfe schüttelte den Kopf. Sie waren außer Kontrolle und Stenian hatte offensichtlich nicht überlegt, was er tun würde, wenn die Bürger nicht mehr zuhörten.
„Du denkst nicht wirklich, dass sie noch irgendetwas von dir hören wollen! Komm jetzt!“, schrie Siviria ihn an und gab ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Der neue Regent hielt inne, wollte etwas erwidern, doch auch er realisierte schließlich, dass er gegen eine Wand anredete. Während der Mob sich anfing gegen den Regenten zu stellen, aber auch gegen sich selbst und alles in totalem Chaos versank, versammelte Siviria die Garde enger um Stenian, sich selbst und ihre Vertrauten. Der Zorn der verschiedensten Anwesenden wurde damit bestraft, dass die Garde des Regenten ohne Warnung anfing, jeden zu verletzen, der nicht Platz für den Herrn Regenten schuf. Blut tränkte den Boden und Siviria sah bei ihrem Rückzug in die hasserfüllten Gesichter der Menschen. Auch Elfen waren unter ihnen, teilweise jene, die nach Rache an ihren Meistern dursteten. So etwas konnte nur durch Menschenhand erschaffen werden.
Nie und nimmer wären die Chantrasami zu solchen Monstern geworden,
nie hätten sie wehrlose Bürger ermordet, und niemals hätte jemals ein Krieg geführt werden müssen.
Siv hielt sich an ihre Vertrauten, während Stenian unsicher im Kreis, den die Garde bildete, herumirrte. Hier und dort taumelte er und manchmal erwischte ihn eine Hand aus dem Mob. So hatte die junge Eiselfe ihn noch nie gesehen. Seine Diplomatie hatte ihn ins Messer laufen lassen, und jetzt war er nichts anderes, als ein Mann der sein eigenes Spiel verlor.
Die Garde tat trotzdem ihre Aufgabe und geleitete die zwei zurück zu den Gemächern. Jeglicher Zugang weiter in das Schloss wurde von den Wachen und persönlicher Garde abgeschnitten, und als Siviria die Türe hinter ihnen schloss, lehnte sich Stenian im Eingangsbereich erschöpft gegen das große Fenster. „Was ist, hast du ernsthaft gedacht, du solltest direkt mit solch einem Gesetz anfangen? Vielleicht verstehst du etwas von Trauerlied selbst, doch wie du mit den Leuten umgehen musst, das weißt du nicht. Selbst ich verstehe mehr davon, und ich bin kein Mensch!“, prangerte Siviria den Regenten an. „Wenn ich wollte, wärst du schon lange tot, also erspare mir diese Belehrungen, oder ich überlege es mir anders!“, schrie Stenian und drehte sich um. Völlig entgeistert starrte er Siv an. Sie wusste, dass er seine Nerven verloren hatte.
„Geht es dir wirklich darum, Chantrasam und damit auch Trauerlied zu einem friedlicheren Ort zu machen? Oder willst du die Elfen zu deinen Schoßhündchen machen?
Vielleicht dachtest du auch einfach nur, dass du mit Rache und mir an deiner Seite dein altes Leben imitieren könntest, so, wie es war bevor man dir deine Elisa entriss! Doch ich sage dir eines: Ich will nicht deine Marionette sein, ich werde dich nie lieben wie deine Elisa es tat, und niemals werde ich ihre Rolle einnehmen! Lieber würde ich sterben!“, spuckte Siv ihre Worte aus. Durch die Hallen hörte man noch immer lautes Geschrei, es wurde allerdings immer ruhiger, denn die Wachen blieben standhaft. Wenn nicht, dann wären Stenian und Siviria ganz sicher Opfer der wütenden Meute geworden.
„Halt dein elendes Maul! Ich will nichts hören!“, schrie Stenian Siv an. Seine Adern traten hervor und erzählten von seiner unfassbaren Wut. Ganz sicher, Siv hatte einen wunden Punkt getroffen. „Das wäre dir wohl lieb, wenn ich nichts sagen würde, was dir nicht gefällt, richtig? Du redest von der Freiheit der Elfen, doch mich, mich willst du versklaven!“, schrie sie ihn an – seine Zurückhaltung endete damit. Die große, raue Hand donnerte unvorhersehbar schnell auf ihr Gesicht zu, und der Schlag riss sie mit und von den Fußen. Nach dem Aufprall auf dem Boden sammelte Siv ihre Kräfte nur langsam. Blut lief ihr aus dem Mundwinkel und auch aus der Nase trat die dicke, rote Flüssigkeit. Just in dem Moment, in dem Siv realisierte was Stenian gerade getan hatte, rissen ihre Vertrauten die Türe auf und blickten hasserfüllt auf ihr Opfer. Stenian schluckte schwer, als er realisierte, dass die zwei Männer seiner Garde gerade hinter ihnen an ihrem eigenen Blut erstickten.
Ich habe mich gefragt, was geschehen würde, wenn ich Stenian meine Hände um den Hals lege und es einfach.. beende. Ja, alles würde zusammenbrechen. Aber.. Ist es das nicht schon? Gäbe es jemals wieder einen so perfekten Moment dafür, wie jetzt? Nein.. Das ist der Moment, in dem ich mich entscheiden muss.
Als Siv am Boden lag, dachte sie an Erlendur. Sie hatte sein Gesicht vor Augen, doch sie stellte sich vor, wie enttäuscht er von ihr wäre, wenn sie mit Stenian die Kontrolle über Trauerlied hatte. Wenn sie seine Ehefrau wäre.. Aus rein diplomatischen Gründen. Nein.
Siv riss mit aller Kraft das Bein des neuen Regenten weg, um ihn zu sich auf den Boden zu befördern. „Viel zu lange habe ich darauf gewartet, dass sich mir eine Möglichkeit bietet, alles zu meinen Gunsten zu drehen, diese Stadt zu Unserer zu machen, aber manchmal.. manchmal lässt sich etwas nur mit roher Gewalt lösen!“, schrie Siv und stieg über den Leib des Regenten. Stenian versuchte sie von ihm herunter zu drücken, doch Siv's Griff blieb eisern, sie klammerte sich an ihm fest, mit Beinen und Armen, bis ihre Hände an seine ungeschützte Kehle gerieten. „Du hast es mit Ordnung versucht, jetzt versuche ich es mit Chaos.“, zischte Siv. Ihr Kleid riss bei der Spannung, die ihre Beine aufbauten, und ihre Vertrauten standen dort, bereit ihr zu helfen, doch Siviria interessierte nichts von dem, sie blickte Stenian nur tief in seine Augen, während das Leben aus seinen Augen wich. „Grüß Elisa von mir.“, flüsterte Siv und stand auf. Sie riss das Kleid von ihrem Leib, sie warf die Schuhe in eine Ecke und löste sich von der Maske, die sie für die Außenwelt aufgesetzt hatte. Diese Rolle war eine, in der sie schon viel zu lange steckte.
Jetzt gab es keinen Regenten mehr. Es herrschte Chaos.
Siviria hatte jetzt nur noch ihre Vertrauten.. Doch da war etwas, eine Idee, die Siviria helfen konnte die Lage unter ihre ganz eigene Kontrolle zu bringen. Während sie aus dem Fenster starrte verteilten sich die Bürger und ehemaligen Sklaven Trauerlieds wüst in der Stadt. Die einfachen hölzernen Häuser innerhalb der Stadt brannten zum Teil, zum Teil mordeten Elfen und Bürger alles, was nicht zu ihrer Meinung passte.
Manchmal musste etwas auseinanderbrechen und bis auf das Letzte heruntergebrannt werden, damit man Platz für etwas Neues, Besseres hatte.