Das Schicksal der Welt
Es war ein Abbild des Wahnsinns, der sich ihm bot. Hundert verkrümmte Leiber, die leeren Auges ineinander verschlungen übereinandergetürmt darniederlagen, einige noch die Klingen fest umklammert, die sie einander in die Bäuche gerammt hatten, um die eigene Flucht zu beschleunigen. Die Schwelledes großen Palasttores war kaum passierbar ob des Leichenberges, der sich an diesem sprichwörtlichen Flaschenhals gebildet hatte. Ungnädig stieg Spiller über die vielen Toten hinweg, nachdem er das bestialische Werk der irren Kunst des Todes einige Augenblicke gemustert hatte, doch musste er nicht fürchten, irgendwo auszugleiten, denn das Blut, dass zwischen den verkrampften Gliedern hervorgesickert zu sein schien war bereits längst getrocknet. Diese hier waren schon seit einer ganzen Weile tot.
Er dachte an die zahlreichen flackernden Lichter und Rauchfahnen, die er von Bord seines Flaggschiffes aus hatte bestaunen können, als die Piratenflotte im Schutze des Nebels in den Hafen Trauerlieds gesegelt waren und zählte eins und eins zusammen. Seine groß angelegte Ablenkung war vollkommen überflüssig gewesen. Auch ohne die tückischen Brandgeschosse, die wie fauchende Feuergeister zwischen die Gassen der Stadt gefahren waren hätte es niemanden gekümmert, wenn er sich Zugang zum Palast verschafft hätte. Doch seine Eile hatte ihn schludrig werden lassen. Seine Furcht um die Nadel, gepaart mit der Vorfreude, das Objekt seiner Begierde endlich in Händen halten zu können hatten drastische Maßnahmen hervorgerufen, die keine sorgfältige Auskundschaftung oder langwierige verdeckte Operationen zugelassen hätten. Es hatte lange genug gedauert, den Ort ausfindig zu machen, an dem sich das mysteriöse Artefakt verbarg und unter welchen Umständen es dort weilte.
Doch auch die Anwesenheit der Elfen unterstrich seinen Irrtum, gab ihm aber zeitgleich Recht. Hätte er den Angriff für auch nur einen Tag später angesetzt, wären seine Chancen, den Palast und seine Verliese zu betreten unter den wachsamen Augen der fremdartigen Besatzer geschwunden. Auch jetzt wimmelte der Ort von Elfen, doch waren die meisten von ihnen zu sehr damit beschäftigt, Trümmer und Verstorbene beiseite zu schaffen, als dass sie den bandagierten Magier auch nur eines Blickes zu würdigen die Zeit hätten. Dennoch hatten die Umstände dieses Manövers viele, viele Leben gekostet. Aber Spiller, der einer steilen Treppe in die Tiefe folgte, kümmerte es nicht. Wozu sollte er den wertlosen, kurzsichtigen Leben der Piraten auch nur eine einzige Träne nachweinen, jendem ungewaschenen Volk, deren Vertreter ihre Leben für einen schnöden Klumpen Goldes in die Waagschale warfen? Oder den Elfen, diesen unrettbaren Fanatikern? Ihrer aller Leben war nichts im Vergleich gegenüber seines eigenen Ziels, seiner höchsten Priorität. Um die Nadel zu finden war ihm jedes Mittel recht.
Und wenn er sie fand, würde er das Schicksal der Welt in Händen halten.
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Der Bimmelkopf begann auf der Stelle zu quasseln wie ein Waschweib und Haj'ett hätte ihn umarmen können für sein ungezwungenes Gehabe. Er hatte fürs erste die Echsenschnauze voll von düsteren Weibsbildern, die in schicksalhaften Worten sprachen und seine feine Gefühlswelt auf harte Proben stellten. Der Spaßmacher war eine so grundlegend andere Erscheinung, die gemäß seiner Aufmachung der Echsenkehle wie bereits vorher ein Glucksen zu entringen vermochte. Er ließ den Wortschwall über sich ergehen und sonnte sich in dem Kompliment, seiner von Feste zugesprochenen Wichtigkeit für das Unterfangen und der großen Worte, die selbst für seine Schießkünste gefunden wurden. Geschmeichelt hob er die Mechanische Waffe vom Rücken und reichte sie dem Narren.
"Sie ist mein ganzer Stolz und entstammt meiner eigenen Hände Werk."
Während der glockenbehangene Mann die Armbrust in Empfang nahm hatte Haj'ett Schwierigkeiten, sich an die einzelnen Fragen zu erinnern, die ihm gestellt worden waren, ohne dass er Zeit gehabt hätte, darauf einzugehen. Die Sache mit dem Apfel hatte er doch schon einmal irgendwo gelesen...
Schließlich beschloss er geschwind, von Vorne zu beginnen.
"Der Zauberweberkram ist mir nicht vollends fremd, doch will es mir nicht gelingen unserer jüngsten Gefährtin ohne Argwohn in die Augen zu sehen. Ihre Aura fühlt sich an wie... wie Gift. Ich kann es nicht erklären. Vielleicht ist das eine 'spirituelle' Angelegenheit."
Er gestikulierte beiläufig, um den letzten Satz zu unterstreichen. Der Narr sollte nicht glauben, dass Haj'ett den Verstand verloren hatte.
"Natürlich seid ihr beide dementsprechend eine angenehmere Gesellschaft. Was unser Reiseziel angeht,..." er beschloss sich profaneren Dingen zuzuwenden, "... so wird uns der Marsch tief ins Innere des Landes Kemet führen, an dessen Schwelle wir hier stehen. Angeblich gibt es dort einen Ort, der uns bei der uns bevorstehenden Aufgabe helfen kann."
Er warf einen Blick zu den Wüstenmännern, die verschiedenen Beschäftigungen nachgingen und bald fröhlich, bald ungeduldig aussahen. Ihn beschlich das Gefühl, dass ihre Rast bereits zu lange dauerte.
"Die freundlichen Herren dort drüben sind unsere Führer und manneskräftige Unterstützung für unsere Reise durch die Wüste. Ich bezweifle, dass uns die Durchquerung Kemets ohne ihre Hilfe gelänge. Aber fangt mir nicht von der Wüstensonne an, die tut bereits ihr bestes, mir das Hirn zu braten. Dererlei Wetter bekommt meiner Art nicht."
Unglücklich dachte er an die vielen Stunden, die ihm in diesem Höllenklima noch bevorstanden, seine Gedanken verrückt spielen lassen und seine Augen trügen würden. Kaum zu glauben, dass er den Sumpf jemals derart vermissen würde. Er blickte hinab zu Twiggy, die ihm trotz seiner eigenen geringen Größe kaum bis ans Kinn reichte und stellte fest, dass ihr die ungädige Sonne dieses Landstrichs ebenfalls kaum ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern vermochte. Wenn die Kobolddame überhaupt so etwas wie Lächeln zu Stande bringen konnte, eine Fähigkeit, die auch Haj'ett fehlte. Jedoch handelte es sich bei dem Echsenmann um ein eher... anatomisches Problem, weil sein zähnefletschendes Grinsen einfach furchtbar aussah.
"Ich begann meine Reise an Alexis' Seite, vor geraumer Zeit in der Stadt Port Milan," fuhr er fort,"Es gab noch mehr außer uns beiden, doch einige starben, einige... gingen verloren. Es war der Zufall, der mich und diesen Haufen vollkommen Fremder zusammenführte und eine Tavernenwirtin versprach Lohn für das 'Unterbinden' diverser Ungerechtigkeiten, ausgehend von einem sogenannten Schlangenkult, der die Stadt geißelte. Ich will Euch nicht mit Details aufhalten, doch die Aufgabe gelang. Unsere Reise führte uns weiter nach Port Raven, nachdem wir Rakka hinter uns ließen und dort... nunja, ihr erratet es vermutlich bereits. Dort brach das Unheil über die Welt herein."
Haj'ett schluckte und wunderte sich über seine eigene Redseligkeit gegenüber dieses Fremden. Doch es mochte an der lustigen Art des Harlekin liegen oder vielleicht daran, dass er dererlei Belange viel zu lange lediglich mit seinen eigenen Gedanken diskutiert hatte und er einfach die Geschichte aussprechen musste, die ihn auf seinen beschwerlichen Weg geführt hatte. Er merkte, wie ihn seine Worte langsam aber sicher in unausgesprochene Gefilde getragen hatten. Denn er näherte sich der Frage nach dem Grund - warum war er nicht längst seiner Wege gegangen, um seinen Frieden zu finden, ganz gleich was mit der Welt geschah? Er hatte schon mehrmals mit dem Gedanken gespielt, ganz einfach zu verschwinden, in die Nacht hinaus zu eilen, alles Leid uns alle Verantwortung, alle Furcht vor der Zukunft hinter sich zu lassen. Selbstverständlich band ihn die Freundschaft zu Alexis, doch liebte er den jungen Magier wirklich mehr als sich selbst?
Haj'ett sprach langsam und um Worte ringend, als er aufs Neue die Stimme hob.
"Seid Euch im klaren, dass ich mir der Gefahren, die vor mir liegen, wenn ich diesem Pfad folge bewusst bin. In den Zeilen meiner Geschichte steht der Tod geschrieben und jeden morgen fürchte ich um einen weiteren Kameraden, der uns vielleicht verlassen muss. So viele sind bereits gegangen, sodass ich mich kaum noch an einzelne Namen erinnern kann. Und seid Euch gewiss, jeder neue Tag kann gleichermaßen bedeuten, dass ich selbst einer derjenigen bin, die diese geschundene Welt verlassen. Doch Alexis ist mein Freund und ich werde nicht von seiner Seite weichen..."
Es war, als würden die geschickten, stets geschwind die Karten mischenden Hände Festes an den Fäden seiner Seele spielen wie an einer verstimmten Harfe. Der Echsenmann schämte sich ob der offensichtlichen Schwäche, die in der Form loser, unüberlegter doch dringlicher und wahrer Worte seinem Munde entsprang. Das Lachen war ihm längst vergangen. Vielleicht trug auch die Hitze dazu bei.
"Manch einer möge Sagen, diese Gruppe ist auf dem Weg, die Welt retten zu wollen. Vielleicht stimmt das, was meinen Freund angeht. Doch ich verrate Euch, ich scheiße auf das Schicksal der Welt. Ich weiß einfach nicht, was ich sonst tun soll."
Die plötzliche Verbitterung beutelte Haj'ett, ein Gefühl, eine Ehrlichkeit, die er bisher immer unterdrückt hatte kamen zum Vorschein.
"Ich bin ein Verlorener. Ich kann niemals wieder dahin zurück, wo ich geboren wurde, meine Heimat ist tabu. Welchen Weg soll ich einschlagen, wenn nicht vorwärts?"
Beschämt blickte er auf und in die nie stillstehenden Augen des Narren. Und er sammelte sich.
"Verzeiht,..." begann er mit zurückgekehrtem Ernst, doch noch leichtem Zittern in der Stimme, "... ich wollte Euer aufmerksames Ohr nicht mit dem kleinen Leid eines Echsenmannes peinigen. Doch bitte gewährt mir die Gunst, ..." Haj'etts Blick galt nun auch Twiggy.
"..., und behaltet diese Worte für Euch. Jeder hat sein Päckchen zu tragen."