Nur widerwillig zwang Evan sich dazu, seine Augen zu öffnen. Mit einem angespannten Gesicht blinzelte er der Decke entgegen, und das eigentlich dämmrige Licht des Raumes brannte zunächst als würde er direkt in die Sonne starren.
Seine Arme und Beine - sowie eigentlich der Rest seines Körpers - fühlte sich ekelig schlaff an und kribbelte merkwürdig. Normalerweise fühlte er sich nach der Benutzung seines Auge bei weitem nicht so elendig … momentan konnte er ja kaum seinen Oberkörper aufraffen.
„Du konntest dem Land der Träume also endlich den Rücken kehren, wie ich sehe“, vernahm er die Stimme seiner spektralen Begleitung. „So viel zu ‚ein oder zwei Stunden ausruhen‘.“
„Wie lang war ich denn weg?“, fragte Evan genervt. Sie hätte es ihm so oder so unter die Nase gerieben, und da sein Kopf momentan kurz davor stand, sich über die Wände des Zimmers zu verteilen, war ein Wortgefecht das Letzte, wonach ihm gerade der Sinn stand.
„Eineinhalb Tage hast du seelenruhig vor dich hin gedöst.“ Sie seufzte kurz ehe sie fortfuhr. „Scheint, als hättest du eine Pause nötig. Port Raven steckt dir offensichtlich noch in den Knochen. Ich sage, du kurierst dich erst einmal aus … in ein paar Tagen treffen wir uns dann mit den anderen bei diesen Seraphen.“
„Unsinn, mir geht’s gut. Und überhaupt – wie willst du mich bitte im Bett halten? So ganz ohne Körper?“
Just in diesem Moment tat sich die Tür auf und Deena kam mit einer Schale Wasser sowie einem Waschtuch in den Händen herein.
„Ihr seid endlich aufgewacht“, stellte sie erleichtert fest. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht … ihr habt lange geschlafen.“
Sie stellte die Schale sowie das Tuch auf einen niedrigen Tisch ab. „Heißes Wasser, falls ihr euch etwas waschen möchtet.“
„Danke, aber ich hätte gern meine Sachen. Ich hab dieses Bett schon zu lang belegt, wird Zeit, dass ich mich wieder auf den Weg mache.“
„Aber eure ... uhm, Begleitung meinte, ihr müsstet euch dringend auskurieren“, entgegnete die Schneiderin standhaft. „Und das ich euch um jeden Preis davon abhalten soll, wieder loszuziehen.“
Ein gemischter Blick aus Verwunderung und Verachtung wechselte zwischen Deena und Elayne, die in ihrer geisterhaften Gestalt auf der Kommode an der gegenüberliegenden Wand saß, hin und her.
„Das ist ja die reinste Verschwörung hier …“ Evan ließ sich wieder zurück ins Bett fallen. „Hinterhältig wie eh und je, Elayne … schmeißt sogar deine Prinzipien über Bord und offenbarst dich einer fremden Person. Meinetwegen, vielleicht brauch ich ja echt eine kurze Pause. Morgen werde ich aber zumindest wohl trainieren dürfen … sonst roste ich noch ein.“
„Mal sehen“, grinste Elayne ihm entgegen.
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Die Tage vergingen – dafür, dass Evan sich regelrecht zu Tode langweilte – einigermaßen flott und es war endlich der Moment gekommen, sich wieder auf den Weg zu machen. Etwas Gutes hatte sein verlängerter Aufenthalt immerhin … Deena konnte die Zeit nutzen, seinen Mantel wieder ordentlich herzurichten. Nicht nur die Löcher und ausgefransten Ränder wurden wieder gerichtet, auch die Flecken waren verschwunden. Fast wie neu.
Das war zumindest Evans Eindruck, als er sich bereit für den Aufbruch machte. Nachdem er alles beisammen hatte, wandte er sich an Deena.
„In Ordnung … wie viel schulde ich dir für den ganzen Aufwand, den ich bereitet hab?“, fragte er, während der die Münzen aus der Tasche holte, die er von Oriak erhalten hatte. Deena hingegen schüttelte den Kopf. „Überhaupt nichts, Evan. Ihr habt mir diesen elenden Schuft Kalid vom Hals geschafft.“ Sie griff unter den Tresen und holte ein Stück schwarzen Stoff heraus. „Wenn überhaupt, schulde ich euch etwas. Hier, das habe ich auf Anweisung von Elayne nebenbei angefertigt … ich hoffe, es gefällt euch.“
Evan nahm das Geschenk entgegen und entfaltete es. Es handelte sich dabei um ein schwarzes Band, auf den das Symbol der Gilde Silberschweif gestickt wurde. Etwas verwundert betrachtete er es kurz und schaute anschließend zu Deena auf. „Ähm, vielen Dank …“ Er begann, sich das Band um den linken Oberarm. „Und nochmals danke, für das Pflegen und so. Es wird aber Zeit, dass ich mich wieder auf den Weg mache.“
Deena nickte ihm zu. „Bis bald, Evan. Vielleicht sieht man sich eines Tages ja wieder“, meinte sie, als er das Geschäft verließ und noch einmal die linke Hand zum Abschied hob.
Die kurze Auszeit machte sich tatsächlich bemerkbar. Nun, da er wieder auf der staubigen Straße stand und ihm die Sonne entgegen schien, fühlte er sich angenehm erfrischt und ausgeruht. Elayne hatte tatsächlich Recht gehabt, eine Pause hatte er definitiv gebraucht. Die eine Nacht, die er während der Überfahrt geschlafen hatte, hatte nicht wirklich ausgereicht. Nicht nach der Hölle, die Port Raven dargestellt hatte.
Port Raven … die Sache hatten ihn die letzten Tage ohnehin zu denken gegeben. Er selbst wusste nicht genau, gegen was für Kräfte sie da vorzugehen versuchten, doch dass sie immens mächtig waren, das war nicht zu verneinen. Deswegen hatte er auch einen Entschluss gefasst, für den er später die Hilfe von diesem Magier Alexis brauchen würde … doch zunächst galt es, eine andere Hürde zu bewältigen.
„Ich habe über die letzten Tage nachgedacht“, begann er schließlich, um Elaynes Aufmerksamkeit zu erhaschen. Was die Leute auf der Straße darüber dachten, dass er scheinbar Selbstgespräche führte, interessierte ihn zu dem Zeitpunkt nicht. „Über das, was da auf uns zukommen wird. Und ich hab entschieden, dass ich endlich lernen will, die Metamorphose zu bewerkstelligen.“
Der Entschluss schien allerdings nicht auf Zustimmung zu stoßen. „Nein“, war Elaynes kurze, aber unmissverständliche Antwort darauf. „Lulu ist nicht hier. Und du weißt hoffentlich genau, was das letzte Mal passiert ist, als du diesen Versuch unternommen hast. Es hat unschuldige Leben gekostet, dieses Risiko ist nicht tragbar.“
„Das letzte Mal ist bald acht Jahre her. Elayne, ich kann das schaffen. Ich muss … du weißt, womit wir uns anlegen. Dunkle Risse im Himmel? Flatter-Schatten und Dämonenviecher? Wir können jede Form von Kampfkraft gebrauchen, die wir kriegen können.“
„Evan … es ist einfach zu gefährlich. Besonders wenn Lulu nicht da ist, um eine Eskalation zu verhindern. Ich bin eindeutig dagegen.“
Unbewusst hatte Evan nun doch den Weg in eine abgelegene Gasse eingeschlagen, abseits der belebten Straßen. „Wieso vertraust du mir nicht? Ich bin mir sicher, dass ich es auch ohne Lulus Hilfe schaffen kann. Verdammt, irgendwann WILL ich das hinbekommen, ohne auf sie angewiesen zu sein. Schließlich ist sie nicht dabei, so wie jetzt auch.“
„Ich kenne dich gut genug – genau wie die Kraft, von der du Gebrauch machst. Die Gefahr ist einfach zu groß.“
„Warum wollte ich das eigentlich mit dir diskutieren? Ich brauch deine Einstimmung ohnehin nicht“, entgegnete er letztendlich frustriert und wandte sich von Elayne ab. Eigentlich war es klar, in welche Richtung diese Unterhaltung gehen würde … warum hatte er das Thema überhaupt angesprochen? „Du wirst mich schließlich schlecht davon abhalten können.“ Damit verließ er die Gasse und kam wieder zurück auf den Weg. Elayne sah ihm mit einem Blick hinterher, der sich nur schwer deuten ließ. Sie wusste wie sehr Evan es störte, auf andere angewiesen zu sein … doch er war einfach blind, wenn es um Risiken und Gefahren ging. Letztendlich setzte auch sie sich wieder in Bewegung und folgte dem Qaraner.
Der Rest des Weges verlief schweigend, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Hier ergriff Evan erstmal seit ihrer kurzweiligen Diskussion wieder das Wort.
„Alle Achtung … diese Seraphen hausen nicht schlecht. Damit machen die fast schon der Gildenhalle der Phönixgarde Konkurrenz“, kommentierte er den scheinbaren Sitz dieser Organisation.
Die Wache ließ den Schwertkämpfer nach einem kurzen Wortwechsel passieren, scheinbar wurde er also schon erwartet. So betrat er die ausladende Eingangshalle und erspähte sogleich einige bekannte Gesichter.
„He, scheint sich ja schon fast jeder eingefunden zu haben“, meinte Evan beiläufig und gesellte sich zum Rest. „Hoffentlich habt ihr mich nicht zu sehr vermisst.“