Endlich hörte Nyon die Tür ins Schloss fallen. Er war weg. Vorsichtig ging sie zur einzigen Tür des kleinen Raumes, in dem sie festgehalten wurde, um durch das Schloss schauen zu können. Tatsächlich, von dem, der sich seit ein paar Stunden ihr Besitzer schimpfte, war nichts mehr zu sehen.
Nyon drehte sich wieder um und besah sich ihre kleine behelfsmäßige Zelle. Sie maß höchstens drei Schritte in jede Richtung und war gerade so hoch, dass sich die junge Frau nicht den Kopf an der schmutzigen Decke stieß. Ein winziges, verdrecktes Fensterchen ließ selbst am Mittag nur einen spärlichen Schein hereinfallen, sodass Nyon sich immerhin nicht an dem niedrigen, klapprigen und viel zu kurzen Bett stieß, welches an der hinteren Wand stand und lediglich mit etwas Stroh gepolstert war.
All das war mit einer dicken Schicht aus Staub und Spinnweben überzogen, was das Zimmer nicht unbedingt bequemer erscheinen ließ, vor allem nicht, wenn man - wie Nyon – die luxuriösen Gefilde des Kristallpalasts gewohnt war.
Innerlich schwor die junge Frau sich, jeden dieser feigen Verräter, die ihren gesamten Hofstaat durch irgendein Gas getötet, Nyon selbst bewusstlos geschlagen und sie an Sklavenhändler verkauft hatten, auf die schmerzvollste Weise zu töten, die ihr einfiel, sollte sie jemals einen von ihnen wieder zu Gesicht bekommen.
Schnell besann sich die Frau mit den kalten, kristallinen Augen wieder und musterte noch einmal den Raum, auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem sie die Tür möglichst kräfteschonend öffnen könnte. Den Schlüssel hatte der Dicke, der sie auf einem ordinären Markt gekauft hatte, sicherlich mitgenommen; diesen magisch zu bewegen war also keine Option.
Missmutig stellte Nyon fest, dass es wohl keine andere Möglichkeit, als die Tür einfach aufzubrechen. Also zog sie das Bett etwas von der Wand weg, wobei es eine deutlich erkennbare Spur staubfreien Bodens an den Stellen hinterließ, an denen es auf dem Boden aufsetzte. Sobald genug Freiraum vorhanden war, stieg Nyon vorsichtig, um sich nicht zu stoßen, über das klapprige Gestell, sodass sie zwischen diesem und der Wand stand.
Es fiel ihr schwer, die Magie in ihrer Hand zu formen, so weit von ihrer Heimat entfernt. Dennoch drehte sich das Bett langsam, bis es parallel zur Tür stand. Nyon stieß ihre Hände nach vorne und schleuderte das Bett damit mit ungeheurer Wucht gegen die Tür, die der Kraft nicht standhielt und krachend aus dem Rahmen gerissen wurde.
Nyons Sicht verschwamm. Dieser Kraftakt hatte ihr nicht gut getan. Wenn sie nicht schleunigst ihre Kristallklingen finden würde, wäre sie unweigerlich dem Tod geweiht.
Die junge Frau schloss die Augen und atmete einen Moment ungewöhnlich ruhig. Als sie die Augen wieder öffnete, klärte sich ihre Sicht wieder, doch ein leichtes Schwindelgefühl blieb zurück. Darauf achtend, keine ruckartigen Bewegungen zu machen, die sie wieder aus der Fassung bringen könnten, wagte sie sich langsam durch die kleine Tür in den Wohnbereich des Hauses. Als der Mann sie in ihr Zimmer geschleppt hatte, hatte sie bereits Gelegenheit gehabt, die Räume zu betrachten, weswegen sie sich jetzt nicht lange damit aufhielt. Viel wichtiger war jetzt, ihre Kristallklingen wieder zu finden.
Sie wusste nicht, wie lange der Dicke weg bleiben würde, also beeilte sie sich damit, die Schränke dieses Raumes zu durchsuchen, ehe sie die Treppe nach unten stieg. Sie stand in einem kurzen Flur mit einer Tür zu jeder Seite und der Haustür an dessen Ende. Nyon zögerte nicht lange, sondern ging direkt auf die linke Tür zu. Dahinter befand sich ein Raum, dem sie keinen speziellen Zweck zuordnen konnte, aber sie erinnerte sich, dass ihr „Besitzer“, nachdem er das Haus betreten hatte kurz in dieses Zimmer mit Nyons Ausrüstung in einer Tasche verschwunden war und ohne sie wieder zu der jungen Frau gestoßen war. Er hatte wohl keine Gefahr von ihr befürchtet, da sie zu diesem Zeitpunkt gefesselt gewesen war.
Nyon brauchte nur einen kurzen Blick in diese Raum zu werfen und sie erblickte die große Stofftasche. Mit großen Schritten ging sie darauf zu und öffnete sie etwas unsanft, was einen langen Riss an der Seite der Tasche nach sich zog. Doch was interessierte das die junge Frau, schließlich konnte der Kerl sich glücklich schätzen, dass sie nicht sein ganzes Haus verwüstete.
Innerhalb von wenigen Minuten hatte Nyon die Rüstung, die sich ebenfalls in dem Beutel befunden hatte, angelegt und die beiden Kristallklingen am Rücken befestigt. Sie prüfte gerade, ob die beiden wertvollen Schwerter richtig saßen, als sie ein Geräusch hörte. Reflexartig drückte sie sich an die Wand neben der Tür.
Gedämpft konnte sie Stimmen hören, die sich der Haustür näherten. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und die Tür öffnete sich.
»Ich versichere Euch, ich habe nicht zu viel versprochen.« >Das ist der Kerl. Der Dicke!< Nyon lauschte Aufmerksam weiter. Sie woltle wissen, über was er redete. »Diese Schwerter sind exzellent gearbeitet und scheint widerstandsfähiger zu sein als alle anderen Waffen, die ich je gesehen habe.« Ein skeptischer Ausstoß war zu hören, ehe der Dicke dem Fremden wohl die Richtung wies und die Tür sich öffnete.
Das Blut schoss Nyon in den Kopf. Eigentlich hatte sie vorgehabt, seelenruhig zu verschwinden, doch der Dicke zwang sie zu anderen Maßnahmen.
Der Hausherr ging zuerst an der jungen Frau vorbei auf den Tisch zu, auf dem die nun leere Tasche lag, während der Fremde in der Tür stehen blieb und ihn beobachtete. Er schien ein recht alter Mann zu sein, doch Nyon achtete nicht weiter auf ihn, denn der Dicke hatte nun endlich bemerkt, dass etwas nicht stimmte, sich umgedreht und die junge Frau erblickt, die das neben der Tür stand und ihn zornig anstarrte.
»Du!? Wie bist du …« Auch er wurde wütend, sehr sogar. Doch Nyon unterbrach ihn.
»SCHWEIG!« Trotz ihrer äußerlich nicht unbedingt kräftigen Gestalt war Nyons Anblick Furcht einflößend. Sie hatte ihren Befehl derart bestimmt geschrieen, dass es selbst dem Dicken die Sprache verschlug. »Eure Anmaßung wird Euch teuer zu stehen kommen.« Langsam ging sie auf den Dicken zu, dessen Wut im Gesicht allmählich einer verschreckten, fast ängstlichen Grimasse wich. »Sagt mir, von wem habt Ihr mich gekauft?« Der Dicke versuchte, etwas zu sagen, doch kein Laut kam aus seiner Kehle. »Sprecht!«, forderte die Frau ihn erneut auf.
»Ber … Bertilius.« Es war nicht mehr als ein kaum hörbares Flüstern, doch es genügte. Nyon wusste, was sie wissen wollte.
»Gut. Ich werde dein leben verschonen.« Der Dicke entspannte sich etwas. »Doch merkt Euch, dass niemand es wagt, mich ungestraft meiner Freiheit zu berauben!« Blitzschnell schleuderte eine von Nyons Klingen aus der Befestigung auf ihrem Rücken und schnellte nach vorne. Wie ein Blitz zuckte es durch die Luft, ein schmerzerfüllter Schrei ertönte und die Hand des Dicken fiel schwer zu Boden.
Die junge Frau hatte sich derweil längst zum Gehen gewandt und war aus dem Zimmer gerauscht, als der Fremde zu dem Dicken eilte, um ihm zu helfen.
Bis die Tür des Hauses wieder ins Schloss gefallen war, hatte Nyon bereits die Straße verlassen. Sie war auf dem Weg aus der Siedlung heraus. In den Wald.
Erst eine halbe Stunde später bemerkte sie, dass sie verfolgt wurde. Ein Bogenschütze, vermutlich dem Dicken zugehörig, verfolgte sie. Und obwohl die Kristallklingen ihr wieder einen Teil ihrer Kräfte zurückgegeben hatten, wollte sie sich, bevor sie sich endlich mal wieder etwas ausgeruht hatte, auf keinen Kampf mehr einlassen.
Obwohl die junge Frau sich alle Mühe gab, keine Spuren oder ähnliches zu hinterlassen, folgte ihr der Bogenschütze ziemlich zielstrebig, als ob er wüsste, wohin sie lief. Selbst nach über eineinhalb Stunden des Versteckens schaffte sie es nicht, den Kerl abzuschütteln, egal, was sie versuchte. >Verdammt. Wie macht der Kerl das? So schaffe ich es nie, ihn los zu werden … ich muss etwas anderes versuchen!<
Nyon spähte durch ein paar Sträucher hindurch. Der Bogenschütze war stehen geblieben und sah sich um. >Jetzt oder nie<, schoss es der Frau durch den Kopf und sie stand auf. Blitzschnell rannte sie los, weg von dem Bogenschützen. Mit etwas Glück hatte er gar nicht gesehen, was Nyon da getan hatte und würde normal weitergehen, was einen ungeheuren Zeitbonus bedeuten würde, doch bei den Fähigkeiten von diesem Mann war das eher unwahrscheinlich.
Mehrere Minuten rannte Nyon, ehe sie sich eine kurze Verschnaufpause gönnte. Sie lehnte sich an einen Baum und stütze die Hände auf die Knie. Bei jedem Atemzug schienen sich dutzende Messer in ihren Brustkorb zu bohren. Sie lehnte sich zur Seite, um zu sehen, ob sie ihren Verfolger nun endlich losgeworden war.
Doch das war ein fataler Fehler. Der Abstand zwischen Nyon und dem Bogenschützen war während ihrem Lauf immer weiter geschrumpft. Nun stand er nur wenige Meter hinter ihr und spannte die Sehne seines Bogens.
Die Frau riss erschrocken die Augen auf und wollte sich wieder zurückziehen, doch schon sirrte ein Pfeil durch die Luft, durchbohre einen ungeschützten Teil ihrer Schulter und warf sie nach vorne auf den Boden. Schmerzvoll schrie sie auf und erwartete einen Gnadenstoß. Doch er blieb aus. Unter lautem Ächzen drehte Nyon sich um und sah sich nach dem Bogenschützen um. Er stand etwas entfernt von ihr und lachte. Dann wandte er sich ab und ging langsam zurück.
Nyon versuchte, sich aufzusetzen. Sie packte den Pfeil und atmete ein. Mit einem Ruck zog sie die Spitze heraus und warf sie zu Boden. Zu ihrer Verwunderung ließ der Schmerz in der Schulter nach. Langsam stand sie sogar auf und ging ein paar Schritte. Keine Probleme.
Verwundert ging Nyon hinter einen Baum, gegen den sie sich lehnte und etwas wartete, bis der Bogenschütze außer Sichtweite war. Warum hatte er sie eigentlich liegen lassen anstatt sie einfach zu töten?
Mit einem Schlag fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. >Gift! Verdammt, ich muss einen heiler finden!< Sie stieß sich von dem Baum ab und lief los. Dass sie keinen Schmerz mehr spürte, lag lediglich daran, dass ihre ganze Schulter inzwischen vollkommen taub war.
Fast eine Stunde irrte Nyon durch den Wald. Eine Ruine war zu erkennen, halb vom Wald zurückerobert und deswegen von dieser Seite nur schwer zu erkennen. Das Gift hatte sich in ihrem Körper breitgemacht, lähmte ihre Bewegungen.
Es war unmöglich, weiter zu laufen. Kraftlos sank Nyon ins Gras. Wegen der Lähmung konnte sie nicht einmal mehr um Hilfe rufen, auch wenn das hier mitten im Wald wohl kaum etwas gebracht hätte.