Eryneths Vater war bereits vor einigen Jahren verstorben, und Eryneth lebte, damals erst zwölf Jahre alt, mit seiner Schwester und seiner Mutter in einem kleinen Anwesen, am Rand von Schattental. In Schattental lebten etwa 200 Schattenelfen, es war die zweitgrößte, bekannte Ansammlung von Schattenelfen auf dem Kontinent. Genauer gesagt vor dem Kontinent, denn Schattental lag auf einer Insel vor der Küste. Ausser der Schattenelfensiedlung lebten kaum Leute auf der Insel, lediglich ein Vampirunterschlupf und ein kleiner, von Menschen betriebener Handelskontor waren noch vertreten. Da die Schattenelfen einen recht strengen, religiös beeinflussten Kodex hatten, spielten Zeremonienwaffen und die Zeremonien an sich eine große Rolle; jede Schattenelfensiedlung hatte ihr eigenes Relikt, entweder ein Gegenstand von hohem religiösem Wert, oder, wie in Schattental, eine Waffe. In diesem speziellen Fall war es ein Dolch, der die Eigenschaften der Schattenelfen widerspiegelte; er sog Licht auf, repräsentierte also somit die Vorliebe der Dunkelheit, und zweitens war er überaus tödlich, was gleichzeitig auch der zweite, wichtige Aspekt der Schattenelfen war.
Eryneths Mutter war die Bewahrerin dieses Dolches, jedoch hatten die Schattenelfen ihn nur zu besonderen Zeremonien benutzt, und da auch nur, um gegebenenfalls ein Schaf oder eine Ziege zu opfern; bis sich die Schattenelfen vollends dagegen entschieden, Tieren wegen ihrer Religion Leid zuzufügen. Von da an wurde der Dolch nur als Andenken und Schutzgegenstand gesehen; es war jedem Schattenelfen klar, dass er immer noch die mächtigste Waffe im Umkreis von einigen hundert Kilometern war, denn er war auf eine besondere Art und Weise geschmiedet worden. Auf der einen Seite war er aus gewöhnlichem Stahl geschmiedet, um ihm die nötige Stabilität zu geben, jedoch wurde der Stahl mit Extrakten von Gremmbein und Schattenelexier „verfeinert“, weshalb diese Waffe so überaus tödlich war. Das Gremmbein war eine extra von den Schattenelfen gezüchtete Pflanze gewesen, bis sie aus Siedlungen flüchten mussten und sie zurückgelassen hatte. Von da an hatte jeder Zugang zu ihr, denn sie wucherte schnell. Niemand jedoch kannte ihr tödliches Geheimnis, bis auf die Schattenelfen! Folglich war es nahe liegend, in einer schattenelfischen Zeremonienwaffe auch Gremmbein zu verwenden. Wie es gelungen war, eine Pflanze in Stahl einzubinden wusste niemand, wahrscheinlich war es nicht besonders hautfreundlich gewesen.
Nun war die Waffe also im Besitz von Eryneths Mutter, die sie in Ehren hielt und pflegte.
Die eigentliche Geschichte beginnt in dem Augenblick, als Eryneth mit seiner Schwester aus dem Dorf nach Hause kommt.
Langsam schlenderten sie den Weg aus dem Dorf hinauf, das Wetter war wieder schlechter geworden; es rieselten kleine Schneeflöckchen herab und tauchten die Welt langsam in ein mildes weiß. „Mieses Wetter!“, fluchte Lilitha. Eryneth schmunzelte: „Die dunkle Jahreszeit kommt… sollten wir die nicht alle lieben?“ Beide lachten kurz. „Ich weiß nicht, die Sommer gefallen mir ein wenig besser! Auch da gibt es Schatten, in den man sich zurückziehen kann!“, erwiderte Lilitha nach einiger Zeit. Eryneth stimmte zu: „Ja, und man friert nicht die ganze Zeit, wenn man, wie ich, nur auf einer Stelle hocken kann!“ Lilitha setzte ein mitleidiges Gesicht auf. „Du tust mir echt ein wenig Leid! Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, mich nicht auch unsichtbar bewegen zu können, wo und wann immer ich will.“ Eryneth dachte nach. „Dafür bin ich schneller als du!“, stichelte er, während er blitzschnell auf ihre andere Seite gewechselt war. Plötzlich war sie einfach verschwunden, dann spürte er, wie sich sich auf ihn stürzte und ihn zu Boden riss. Sie rief: „Aber ich kann das hier!“ Beide lachten und rangen ausgelassen. „Ich krieg dich noch!“, rief Eryneth, während er ihr den Weg hinauf hinterherjagte. „Nie im Leben!“, rief sie zurück. Er rannte immer schneller, und hohlte langsam auf. Sie waren schon fast zu Hause, und als er sie fast eingeholt hatte, blieb sie plötzlich stehen, sodass er in sie reinrannte.
„Was ist denn?“, fragte er enttäuscht. Sie antwortete nicht sofort, sondern sagte nur: „Sieh selbst!“ Er blickte um die Ecke. Er hätte am liebsten laut geschrieen!
Im Garten stand eine alte Tanne, die nun lichterloh brannte, aus einem der oberen Dachgeschossfenster schlugen ebenfalls Flammen, und über allem hörte er seine Mutter entsetzt kreischen. „Hinfort Vampir! Hinfort Vampir!“, schrie sie immerfort. Dann plötzlich verstummten ihre Schreie, und er vernahm einen dumpfen Schlag. Lilitha und er rannten los, so schnell sie konnten; im vorbeirennen riss Lilitha eine Heugabel aus ihrer Halterung am Schuppen und sie stürmten ins Haus.
Es sah aus, als hätte ein Wirbelsturm gewütet, in jedem Raum, durch den sie kamen, als sie sich nach oben rannten, lagen die Sachen kreuz und quer über dem Boden, es hatte ein Kampf getobt, soviel war klar! Als sie in den zweiten Stock gelangten, sah Eryneth bereits auf der Treppe, was nicht stimmte: ein kleines Rinnsal aus Blut floss langsam über die Treppenstufen hinunter, als sie ihm folgten, fanden sie ihre Mutter; oder das, das der Angreifer von ihr übrig gelassen hatte, sie war zerfetzt und quasi durch den ganzen Raum verteilt. Lilitha wandte die Augen ab und zog Eryneth mit. „Wir müssen ihn finden! Er ist bestimmt noch hier!“, sie rannte wieder los. Er folgte ihr durch die Treppenfluchten, bis sie schließlich in ein kleines Zimmer kamen, jemand stand am Fenster und beobachtete sie, beinahe gelangweilt. Mit eiskalter Stimme sagte der Fremde: „Das ist alles, das Schattental mir entgegenstellen kann? Das ist alles, was sie mir schicken, um zu verhindern, dass ich euren tollen Dolch klaue? Lächerlich!“ Er sprang auf die beiden zu und versetzte Lilitha einen kleinen Schnitt am Arm. Sie kreischte, und stach mit der Heugabel auf ihn ein. Gemeinsam schafften sie es, ihn zum Fenster zurückzudrängen, als er plötzlich sagte: „Ich bin sicher, wir sehen uns wieder, Eryneth! Ihr werdet mich schon finden, da bin ich sicher! Ich will schließlich das ihr kommt… ich habe noch etwas mit euch vor, zur rechten Zeit werdet ihr kommen! Sucht nach … Lerodan!“ Er lachte ein irres Lachen und sprang aus dem Fenster. Eryneth setzte ihm nicht nach, sondern sah zu Lilitha, die auf den Boden gesunken war. „Zeremoniendolch.“, sagte sie bloß. Eryneth war klar, was es bedeutete, er hatte in einer Nacht Mutter und Schwester verloren, durch diesen Fremden… Lerodan hatte er sich genannt. Und dieser wollte, dass Eryneth ihn fand. Nun, diesen Gefallen tat er ihm gerne. „Bruder, räche mich und Mutter! Und finde den Dolch wieder. Er ist zu mächtig für einen sterblichen…“
Er schwor es ihr und stand auf, dann ging er still und heimlich zu dem menschlichen Handelskontor und verließ die Insel. Für immer.
Obwohl Eryneth absolut klar war, dass Lerodan auf ihn wartete, verfolgte er ihn immer weiter; dann schließlich fand er ihn, zusammen mit einigen Freunden; und tötete ihn. Was er nun macht? Nun sitzt er unter einem Baum und erzählt seine Geschichte…