Die beiden Goldesgünstlinge, die die kleine Gruppe in Empfang genommen hatten, machten den Eindruck recht angenehmer Gefährten. Die Art, wie sie vollendet Höflichkeiten mit Morachin austauschten, zeugte von einer Erziehung, wie man sie gewöhnlich nur in adeligem Hause genoss. Aber das schien der Vergangenheit anzugehören - die roten Schärpen wiesen auf einen niedrigen Rang hin und jemand von nobler Geburt hätte sich mit seinem Gold einen wesentlich höheren Posten erkaufen können. Der Schnitter glaubte, dass er hier mit Dünnblütern sprach, die hoch gestiegen und tief gefallen waren. Fast war es bedauerlich, dass er sie nicht leben lassen konnte.
Nachdem sie eine geziemende Begrüßung hinter sich gebracht hatten, wobei Morachin seine schweigsamen Begleiter mit falschen Namen vorstellte, fingen die beiden Herren denn auch an, sich auf das Thema dieses Treffens zuzubewegen. "Wir sind erfreut..." "... euch mitteilen zu können..." "... dass die exotischen Glaswaren, nach denen euer Herr fragte..." "... akquiriert werden konnten. Wenn ihr..." "... uns zu einem unserer..." "... Warenhäuser..." "... begleiten möchtet, so steht..." "... das Objekt für euch zum vereinbarten Preis..." "... bereit. Wir bitten euch untertänigst..." "... um Diskretion in dieser Angelegenheit..." "... die innerhalb unser Organisation..." "... zu den brisanteren Kupferlingangelegenheiten zählt."
Die letzte Äußerung, das erkannte Morachin, diente dazu, seine Zweifel zu besänftigen. Kupfer war weitaus weniger wert als Gold und so bezeichneten Goldesgünstlinge alle Außenstehenden als Kupferlinge. Mit der Bitte um Diskretion gaben diese beiden Männer ihm nur zu verstehen, dass sie sich lediglich als Mitglieder der Goldesgunst ausgaben. Das "Warenhaus" war dementsprechend ihr Versteck. Vermutlich würde sich Morachins Gruppe mit einer Augenbinde einverstanden erklären müssen oder womöglich versuchte man, sie mit einem betäubenden Gas oder Pulver vorübergehend außer Gefecht zu setzen. Was Kunden verärgerte, konnte man mit einem bloßen Kurier schließlich nach Belieben anstellen.
"Weder Untergebene, noch Gleichgestellte, noch Obere werden je durch mich oder meine Gefolgsleute von diesem Handel erfahren, dies schwöre ich unter dem Licht Alindirs." Es war immer besser, einen toten Gott anzurufen, den keiner kannte. Lebende ergriffen viel zu oft irgendwelche Vergeltungsmaßnahmen, wenn man einen Schwur auf sie brach, vom gewöhnlichen Blitzschlag bis zum himmlischen Attentäter.
Die falschen Goldesgünstlinge waren damit zufrieden - auf göttliche Macht und Schwüre gaben sie nicht viel. Morachin hatte das kurze Gespräch einfach zu einem angemessenen Ende geführt und so bedeuteten sie ihm, ihnen zu folgen.
Ihr Weg folgte keinem erkennbaren Plan. Mehrmals hatte Morachin das Gefühl, dass sie in dieser Straße oder auf diesem Platz kurz zuvor schon gewesen waren. Einmal liefen seine beiden Führer sogar ganz offensichtlich im Kreis um einen Häuserblock. Dennoch...
"Wie lange wollen wir ihnen denn noch hinterherdackeln? Machen diese Kerle gerade ihren Verdauungspaziergang oder kommen wir auch mal an irgendein Ziel?", beschwerte sich leise jemand hinter Morachin. "Geduld, Ryan. Seht ihr nicht die Veränderungen?" "Ich sehe höchstens einen Galgen mit einem überaus penetrant riechenden Anhängsel, an dem wir schon zum vierten Mal vorbeikommen." "Vielleicht solltet ihr auch auf andere Details achten", schaltete sich nun Arec ein. "Wir sind mitten in einer Menschenmenge unterwegs, aber es ist totenstill geworden. Und diese Leiche hing noch nicht am Galgen, als wir zuerst daran vorbeikamen. Auch scheinen Geschäfte aus der einen Straße unverhofft in der anderen aufzutauchen." "Vermutlich", nahm Morachin den Faden auf "sind wir einer äußerst subtilen, aber teilweise fehlerhaften Illusion erlegen. Wir sehen, wohin man uns führt und kennen trotzdem nicht unseren Weg." "Mir gefällt das nicht", war Ryans knappe Entgegnung. "Mir auch nicht, Scott-sera." "Man könnte... sonstwas mit uns anstellen!" Morachin bedeutete ihm, seine Stimme zu mäßigen, ehe ihre Führer sie hörten. "Hat man eine Illusion erkannt, Scott-sera, muss man sie nicht mehr akzeptieren." "Aber es muss schließlich niemand wissen, dass wir die Sache durchschaut haben", schloss Ryan. Immerhin hatte er verstanden.
Schließlich endete ihr Weg an einem kleinen Haus mit ummauertem Garten. Es hätte an jedem beliebigen Ort in Qudinar sein können, unter dem Einfluss der Illusion standen auf den Straßenschildern schon längst keine echten Namen mehr. Einer der falschen Goldesgünstlinge zog einen kleinen Messingschlüssel hervor und verschaffte sich Einlass, gefolgt von seinem Kumpan und Morachins Gruppe. Durch einen schmalen Flur gelangten sie in einen kleinen, ummauerten Garten, der zudem noch auf allen Seiten von Häusern umschlossen war. Die Mitte nahm ein recht großer Teich ein. Auf Morachin machte er einen leblosen Eindruck, weder Zierfische noch Wasserpflanzen befanden sich darin. Die Goldesgünstlinge hatten sich indes zu einem steinernen Tisch begeben. Während der eine dort irgendetwas bewerkstelligte, wurde sein Tun durch den anderen, der entschuldigend lächelte, vor fremden Blicken abgeschirmt. Kurz darauf ertönte ein blubberndes Geräusch. Morachin sah wieder zum Teich.
Zu seiner Überraschung floss dessen Wasser ab und legte eine kleine Wendeltreppe frei. Man forderte ihn diesmal auf, dem einen Mann zu folgen, während der andere sich ans Ende der Gruppe setzte. Hinter Morachins Rücken hörte es sich so an, als würde Thorgrimm seine Äxte lockern. Mit einer unauffälligen Geste bedeutete er dem Zwerg, noch etwas länger zu warten und folgte der Aufforderung der schon bald toten Splitterdiebe.
Am Ende der Wendeltreppe traten sie in einen engen und feuchten Gang ein. Unter Gittern am Boden schwappte das Wasser vor sich hin. Morachin fragte sich erst, wie sie hier unten ihren Weg finden wollten, wo doch schon bald Dunkelheit alles vereinnahmte. Die Antwort erhielt er nach einer gerade noch erkennbaren Abzweigung.
Pilze wuchsen hier, die schwaches, aber zur Orientierung ausreichendes Licht spendeten. "Faszinierend", flüsterte Morachin. Er war versucht, anzuhalten, sich die Pilze näher anzusehen, vielleicht sogar einen zur Untersuchung mitzunehmen (als er jedoch einen kleineren Pilz am Stengel abknipste, erstarb dessen Licht sofort), aber sein Vordermann wartete nicht auf ihn. Dessen Schritte waren nun wesentlich zielgerichteter, je näher sie dem Diebesversteck kamen. Sie bogen immer wieder in neue Gänge ab - ein Labyrinth, klein, aber fein und voller Zeichen, die nur die Diebe verstanden. Morachin merkte sich diese Zeichen und fertigte im Geiste eine Karte des Gängesystems an, später würde er ihren Weg mühelos aus dem Gedächtnis heraus zurückverfolgen können. Dann würde schließlich niemand da sein, um ihn und seine Gefährten zu führen.
Obwohl man unter der Erde leicht das Zeitgefühl verlor, fand die Reise durch das Labyrinth ein schnelles Ende, so fühlte es sich zumindest für Morachin an. Sie hielten vor einer stählernen Tür. Einer der Diebe legte einen Hebel an der Wand um. Die Tür glitt erst ein wenig zurück, dann in den Boden. Weitere Vorsichtsmaßnahmen schien man ab hier nicht für nötig befunden zu haben. Kaum waren alle eingetreten, schloss sich der Durchgang wieder. Einen zweiten Hebel oder einen ähnlichen Mechanismus, mit dem er sich von innen öffnen ließ, konnte Morachin nicht entdecken. "Geduldet euch bitte noch ein wenig länger, al'Seen-sera", beschied man ihm. "Euer Splitter ist zum Greifen nahe. Wenn ihr bitte Mataia folgen würdet..." Eine kleine Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die eine Lederrüstung ebendieser Farbe trug, trat aus dem Schatten des runden Lagerraumes, in dem sie sich nun aufhielten. Erfreut stellte Morachin fest, dass er ausnahmsweise einen Erwachsenen vor sich hatte, mit dem er sich auf gleicher Augenhöhe befand. "Mit Vergnügen", antwortete er und nahm sich vor, Mataia ganz zuletzt zu töten.
Die beiden Männer begaben sich in der Zwischenzeit in einen Nebenraum, wo sie sich ihrer Ringe und Schärpen entledigten, während Morachin, Arec, Ryan, Thorgrimm und Zohani Mataia folgten. Während sie eine Reihe weiterer Lagerräume durchquerten, stellte Morachin im freundlichen Geplauder mit Mataia fest, dass die Frau äußerst unzufrieden mit ihrer geringen Körpergröße war, so wie er mit der seinen. Freimütig beantwortete sie nahezu alle Fragen des Schnitters und verstand es, geschickt auszuweichen und ein anderes Thema zu finden, wenn er sich in gefährlicher Weise über die Diebesgilde von Qudinar erkundigte. Ganz vermeiden konnte sie es jedoch nicht, sich hier und da zu verplaudern.