Asterinian beachtete das Geschehen nur am Rande - das übliche Gerede und, nicht zu vergessen, die Gefühlslawinen. Oder was immer gerade vorging, denn, wie gesagt, er beachtete das Geschehen eben nur am Rande. Was ihn natürlich nicht davon abhielt, die wenigen wirklich interessanten Dinge niederzuschreiben. Etwa die Geschichte, die Idril erzählt hatte. Eine ungewöhnliche Geschichte. Er verstand sie nicht, sie verwirrte ihn, warf Fragen auf, vor allem die eine...
... wieso wurde einem bereits gesagt, was die Moral der ganzen Sache war? Er hätte sie sich viel lieber selbst erschlossen.
Als die Gruppe sich zur Rast legte, mit Ausnahme derjenigen, die über solche Unzulänglichkeiten wie Müdigkeit erhaben waren, ging seine bisherigen Aufzeichnungen durch. Das Buch füllte sich allmählich mit mal mehr, mal weniger aufregenden Erfahrungen, aber alle waren lehrreich, was ja wohl die Hauptsache darstellte.
Die Aufzeichnungen über seine Studienobjekte ging er besonders vorsichtig durch - ein zusammengewürfelter Haufen, in dem ein jeder seine Freunde und seine Rivalen hatte. Er beobachtete und lernte von ihnen. Es wuchs einfach in ihm, er sah, wie jemand ein Gefühl zur Schau stellte und alsbald erschien in seinem eigenen eine Zarte Knospe derselben Empfindung, die es zu kultivieren galt. Und da so viele Handlungen von Gefühlen bestimmt waren, stieg damit auch sein Verständnis der Welt um ihn herum. Inspirierend, hätte manch einer gesagt.
Und sie alle waren so verschieden, dass ein jeder unbewusst als Lehrmeister in den verschiedensten Fächern diente. Da waren die Unsterblichen und Langlebigen, die alle anderen wie Kinder behandelten, allen voran der verschwundene Haldamir, der verächtlich auf alle Vorstellungen von Moral - komplizierte Dinger! - herabsah und die Fähigkeiten der jüngeren Gefährten wie etwa Sperbers Beherrschung des Schwertes belächelte, und Eleasar, der Magier mit der übersteigerten Selbstsicherheit. Durch deren bestürzenden Mangel hingegen zeichnete sich Ryan aus - was versprach der junge Mann, ausgestoßen aus seiner Heimat, sich vom Leben? Seine Neigung zum Alkohol sah Asterinian als Zeichen der Verzweiflung. Dann Larale, eine weitere Ausgestoßene, die dennoch eine Queste zum Wohle ihres Volkes unternahm. Auch Arec verfolgte ähnliche Ziele, doch war er in der Gemeinschaft der Drow anerkannt und doch so anders. Wo waren Verachtung und Arroganz für die "niederen" Rassen, die verstohlenen Blicke, die nach Schwächen an Kameraden suchten, deren Nutzen irgendwann erschöpft wäre? Zudem: Drow und Ehre passten so gut zusammen wie Schönheit und Oger. Aber vielleicht hüllte der Nachtläufer sich auch in eine kunstvolle Täuschung.
Und dergleichen mehr. Aber wenn sie sich in etwas anderem als ihrem Wesen noch mehr unterschieden, dann waren das ihre Motive. Wie gesagt, Larale und Arec versuchten, ihre Völker zu retten. Doch welchen Nutzen zog Larale für die Feuerelfen daraus, Arec auf seinem Weg zu unterstützen, den zu beschreiten diese Gruppe - oder mehr eine kleine Armee? - sich entschieden hatte? Der Feuerdrache mochte sterben, während die Dämonen, die Lloths Kinder bedrohten, niedergerungen wurden.
Sperber? Er hörte auf den Ruf eines Gottes und stellte diesen wohl nicht infrage, aber behagte es ihm denn, für das Überleben eines Bösen zu kämpfen, dass in manch einer Inkarnation größer war als seine dämonischen Feinde? Wohl kaum.
Ryan? Einfach nur froh, einer Gemeinschaft anzugehören, so er sich denn wirklich zugehörig fühlte. So sah zumindest Asterinians Vermutung aus. Allerdings überdauerte keine Kampfgemeinschaft die Ewigkeit und wenn diese hier zerbrach, was dann?
Zarius, der Beobachter im Hintergrund, tat wohl einem alten Freund einen Gefallen, aber bei allem, was er in den letzten Tagen an Wissen erworben hatte, das Verständnis solch tiefen Vertrauens und umfassender Freundschaft, dass man derartige Gefahren auf sich nahm, besaß Asterinian nicht.
Ihm war klar, dass manche sich früher oder später von ihnen trennen würden aufgrund der Unvereinbarkeit ihrer Ziele. Aber er wusste auch, dass sie alle keine Wahl hatten. Die essentiellen Strukturen brachen um sie herum zusammen und wurden neu errichtet, in jedem Augenblick. Es war ihr Schicksal und dem konnte sich nur verweigern, wer keines besaß - etwa eine Anomalie, oder jemand, der die Grenze des Todes überschritten hatte. Das Schicksal war nicht der größte Marionettenspieler, aber dafür der, dem man sich einfach nicht entziehen konnte, was man auch tat. All die großen Schritte im Leben standen fest von der Geburt an. Aber auch wenn es so war, wie es war, das Schicksal, dass all diese unterschiedlichen Personen zusammengeführt hatte, musste ein sehr ungewöhnliches sein.
Asterinian sah hinaus in die Dunkelheit.
"Ich frage mich, wer uns wohl als nächstes angreift." Begeistert notierte er, dass er gerade ein Selbstgespräch geführt hatte.