Zohani betrachtete das Rüstungsteil in ihrer Hand. Nun war es vollkommen seines Nutzens beraubt, und sie würde es während ihrer Durchquerung des Schattenpfades wohl auch nicht reparieren können. Rüstung konnte wohl im Kampfe schützen, doch sie war vergänglich … und so musste der geschickte Kämpfer sich auf sich selbst verlassen können. Diese Kugel hätte mich töten können. Beim nächsten Mal sollte ich lieber fähig sein, auszuweichen. Doch sie würde trainieren müssen, um eine solche Agilität an den Tag zu legen. Eine Agilität, die sie bisher kaum an sich hatte finden können. Vorerst würde es also bei der Rüstung bleiben …
Doch sie hatte gesehen, wie die Frau namens Shara Essen beschworen hatte. Aus dem reinen Nichts, wie es den Anschein hatte. Und doch genießbar, also nicht nur illusionärer Natur. Soweit Zohani das beurteilen konnte, handelte es sich dabei bereits um höhere Magie. Also durchaus beeindruckend. Vielleicht … würde die Magierin ja auch in der Lage sein, ihre Rüstung magisch zu flicken? Eine Frage war es wohl wert. Sie musste sich der Gefährtin sowieso noch vorstellen, denn es machte auch bei ihnen nicht den Anschein, als würden die neu Dazugekommen sie bald wieder verlassen. Somit war es wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie alle untereinander bekannt waren.
Milianra stützte sich etwas schwerer auf sie. Zohani verlieh ihr die nötige die Stütze und fragte: „Der Schmerz ist noch nicht verschwunden, oder?“
Die Elfe schüttelte den Kopf. „Idrils Heilung hat nicht funktioniert. Mein Körper … scheint sie nicht zu akzeptieren. Egal, wie stark oder rein ihre Natur ist.“ Was hatte das zu bedeuten? Zohani merkte, dass Milianra dies schon seit langem wusste. „Doch Kräuter behalten ihre Wirkung?“
„Kräuter, Tränke, alle weltlichen Heilmittel. Es sei denn … sie wären magisch zubereitet.“ So dämmerte es Zohani langsam. Immunität … von besonderer Natur? Sie blickte ihre Freundin nur an und fand in dem ihrigen ihre Bestätigung. Und trotz aller … Neutralität … spüre ich dieses Band. Was mag es sein? Die Gedanken waren nicht unausgesprochen geblieben. Oder doch?
„Ich spüre es auch, Zohani. Seit wir uns begegnet sind.“
„Es ist schwer zu fassen … doch stets präsent. Ich weiß nicht, ob ich verunsichert sein soll oder nicht.“ „Mir geht es ähnlich. Ich spüre … Ansätze von meiner Verbindung mit Zer und Myrta.“ Zohani zog die Stirn kraus. „So … stehen wir uns möglicherweise auf geistiger Ebene sehr nahe?“
„Ich halte es für sehr wahrscheinlich, doch es muss noch mehr sein. Irgendwie … naja. Es scheint mir so übernatürlich.“ Zohani schwieg einen Augenblick. „Nun – wir alle werden nach einem unsichtbaren System unseren Rollen zugeordnet, wie mir scheint, vielleicht gehört diese Bindung zu diesem System. Oder irre ich mich?“ Milianra lächelte, doch es war erneut nicht wirklich ein fröhliches Lächeln. Die Zweideutigkeit darin war offen lesbar. "Es sieht mehr als nur danach aus. Am deutlichsten macht es sich bei Idril bemerkbar. Ihre Rolle der ... Wächterin? Es mag mehr dahinterstecken als nur der Schutz für unsere Gruppe. Und du solltest dich am wenigsten irren – wo doch ich schon beinahe erahnen kann, für was du bestimmt bist.“ Zohani hörte Sperber zu Taiyo sprechen, war sich des Pfeifenqualmes bewusst, der durch die Dunkelheit zu wabern begann und sah Eleasar mit dem unbekannten Lich sprechen. Doch es alles lag wie hinter einer Art durchsichtigem Schleier, der sich dazwischen gelegt hatte, ließ sie unberührt, während Milianra zu ihr sprach. „Und warum weiß ich es selbst nicht?“
„Ich denke, du kannst dir keinen Reim darauf bilden, weil du im Zentrum dessen stehst, was dich erwartet. Du versuchst, aus dem Zentrum auszubrechen, um es von außen betrachten zu können. Doch das ist dir nicht möglich.“
„Und deshalb besteht dieses Band zwischen uns, dass du mir davon erzählen kannst?“ Milianra schwieg ihrerseits für einen Moment. „In gewissem Sinne könnte das ein Grund sein … wer weiß, wer in diesem Krieg alles seine Finger im Spiel hat.“ Oh, in diesem Krieg. Eine erneute Bestätigung, dass mein Gott nicht alleine kämpft. Gegen was auch immer. „Doch ich kann es dir nicht sagen, Zohani, da ich selbst nur Vermutungen anstellen kann. Und … ich glaube nicht, dass es gut wäre, es dir jetzt zu sagen, was ich denke.“ Die Söldnerin seufzte. „Du weißt, ich vertraue dir. Ich weiß nicht, wer dafür verantwortlich ist, oder ob es das Schicksal alleine ist, das uns zusammengeführt hat, doch ich sehe in dir … so etwas wie meine Schwester. Die ich nie hatte.“ Die Elfe nickte langsam und sagte leise: „Ja, eine … passende Beschreibung.“ Sie sahen sich einen Moment an. „Willst du mir nicht mehr von deiner Kindheit erzählen?“
Die Situation mochte etwas abstrakt erscheinen, so weit von einem warmen Platz entfernt, in diesem matten Grau, doch so wie auch der Rest der Gefährten sich von der Begegnung mit Balch erholte und abzulenken versuchte, nutzten auch die beiden Frauen die Gelegenheit, etwas Ruhe zu finden. Nun war die Frage, wo sollte sie mit Reden ansetzen?
„Ich wurde als Einzelkind geboren, und die Tatsache, dass ich ein Mädchen war, hat meinem Vater schon immer missfallen. Er war der Kriegsherr unseres Volkes und stand unserem Gott sehr nahe. Er hatte sich immer einen Sohn gewünscht, der ihm verwehrt blieb. Die übliche Geschichte.“ Sie zuckte mit den Schultern. „So stellte er mich immer hart auf die Probe, und ich verstand nicht, was seine Gründe dafür waren. Ich würde ihn später sowieso nicht in seiner Rolle ablösen können, denn Kriegsherren waren in unserem Volk seit jeher Männer. Es gab nur Geschichten von einer Frau, die einmal Kriegsherrin war, doch … es waren eben Geschichten. So brachte er mir den Schwertkampf bei, ließ mich harte Arbeit erledigen und all das. Ich spürte wenig von seiner väterlichen Zuneigung. Es war ein Grund unter mehreren, die mich dazu veranlassten, schließlich Reißaus zu nehmen. Ich wollte mehr von der Welt sehen, von unserem Kontinent weg kommen. So kam ich zu den Piraten und wurde Söldnerin … es hat mir allerdings nie die Erfüllung gebracht, die ich mir von diesem wilden Leben erhoffte hatte. Ich habe erst spät gemerkt, dass das, was mir fehlte, mein Zuhause war.“ „Milianra blickte sie mitfühlend an. „Du bereust es, dass du damals von deinem Zuhause weggelaufen bist?“
„Ich kann nun nicht mehr von echter Reue sprechen, denn ich habe mich damit abgefunden, doch … nun, ich würde gerne wieder dort hin, sei es nur, um meine Eltern einmal wieder zu sehen. Ich möchte wissen, wie es ihnen während meiner Abwesenheit ergangen ist, ob sie ein weiteres Kind zur Welt gebracht haben, wie es ihnen geht. Ich habe verstanden, dass mein Vater in mir seinen Sohn sah, und ich glaube auch, dass er auf seine Art … stolz auf mich war.“ Es fiel ihr schwer, von diesen Gedanken zu sprechen, die sie ihr ganzes Leben lang beschäftigt hatten. Selbst vor Milianra. Sie senkte den Kopf um ein weiteres Mal, um ihre Gesichtszüge zu verbergen. Kurz darauf spürte sie Milianras Hand an ihrem Kinn.
„Verbirg dich bitte nicht vor mir. Ich möchte dir als Freundin beistehen, das weißt du. So, wie du mir beistehst.“ So blickte sie wieder auf. Ihre Gesichtszüge waren schmerzerfüllt. Milianra seufzte. „Den Schmerz, der dich heimsucht, kann ich allerdings auch nicht verstehen. Er scheint mir … an deine Gefühle gebunden.“
„Sind wir im Moment nicht alle an unsere Gefühle gebunden?“
Die Elfe nickte. „Es macht mir ganz den Anschein. Shara, die Assassine, …“
„Die Assassine.“
„Ich denke schon. Obwohl sie sie meisterhaft verbirgt … vermutlich ein Teil ihrer Ausbildung.“
„Oder es sind die Gefühle, welche sich vor ihr zu verbergen zu versuchen.“
Milianra musste lächeln. „Was für weise Worte ich da aus deinem Munde zu hören bekomme.“
„Wie wir bereits festgestellt haben. Wir alle verändern uns … bekommen unsere Rollen zugewiesen für den großen, unbekannten Schlachtplan.“ Milianra blickte sie ernst an. „Dein Schmerz, du hast gelernt, ihn zu unterdrücken.“
„Ja.“
Milanra nickte. „Dann solltest du dich besser darauf konzentrieren.“
„Ich versuche es bereits die ganze Zeit. Es macht mich schweigsam.“
„Ja, ich habe es bereits gemerkt … und ich glaube, es treibt deine … Veränderung voran.“
Ein interessanter Gedanke. Ebenfalls der Teil eines trickreichen Planes?
„Doch es ist nicht nur das. Es fällt mir immer schwerer, den Schmerz zu unterdrücken. Und das … bereitet mir erneute Sorgen.“
Ihre Freundin blickte nachdenklich und sagte dann mit leiser, aber bestimmter Stimme: „Dann darf es nicht mehr lange dauern, bis du das Schwert gefunden hast. Die Zeit läuft davon.“
„Ja.“
Sie hörte nun auch in der Stimme Milianras leichte Besorgnis. „Hoffentlich ziehen wir dann bald weiter.“ – „Es kann nicht mehr weit sein.“
„Willst du zuvor noch deinen Brustpanzer reparieren lassen?“ Zohani lächelte, als Milianra erneut ihre Gedanken gelesen hatte. „Das wäre keine schlechte Idee.“
Milianra lehnte sich an Nuramon, Zer zu ihren Füßen, als Zohani in die Richtung der Hassadeurin ging. Bei ihr angekommen, stellte sie sich zögerlich vor. „Hallo. Mein Name ist Zohani. Ich war einmal Söldnerin. Shara, ich wollte euch nach diesem Kampf um einen Gefallen bitten. Steht es in eurer Macht, diesen Panzer zu flicken? Ich fürchte, ich kann ihn alleine nicht reparieren. Ich möchte allerdings nicht, dass ihr eure Kräfte daran verausgabt …“ Sie hoffte, mit diesem Anlass nicht stümperhaft auf die Magierin zu wirken, als sie so das Gespräch mit Sperber und der goldfarbigen Frau in einem Moment des Schweigens unterbrach. Dass Shara gerade geweint zu haben schien, fiel ihr erst jetzt auf.