Freude ging mit bedächtigen Schritten auf Idril zu. Unmittelbar vor ihr blieb ihr stehen und legte ihr behutsam einen Finger auf die Lippen. "Ssht, kleine Elfe." Sein anderweltlicher Zauber allein reichte, um widerwillige Arme, die ihn wegstoßen wollten, erschlaffen zu lassen. Idril konnte nichts tun. Absolut nichts.
Machtlosigkeit.
Die hochgewachsene Anomalie ließ sich etwas herab, um Idrils Blick auf gleicher Augenhöhe begegnen zu können. "Ich sehe es. Dieses Feuer, wie es hinter dem Tor lodert! Ja, mein Erscheinen bereitet mich dir in der Tat... auf klägliche Art und Weise..." Abrupt wandte er sich von ihr ab. Lust war in seiner Stimme und seinem Blick gewesen und ihren Körper hatte er mit Wohlgefallen betrachtet. Doch nun klang er ernst, sachlich. Und dieser Hauch von Amüsiertheit, der überdies stets in seinem Tonfall lag, was er auch tat,machte es nur noch furchteinflößender, unnatürlicher.
"Es ist bedauerlich, dass du dich von deinen Gefährten getrennt hast. Wir hätten es vorgezogen, euch alle auf einen Schlag erlegen zu können. Zudem, wie enttäuschend, dass auch andere diese Gruppe verlassen haben. Der Untote, der sich Heras nennt, ist mehr mit holder Weiblichkeit beschäftigt. Galdor und Dragonius? Wer weiß schon, welches Schicksal der Shingeijutsu ihnen zugedacht hat? Vielleicht werden die, die sich nun angeschlossen haben, aber auch interessanter sein. Hm. Dieser Schattenmagier und sein Memento Morie..." "Ihr scheint bestens informiert zu sein, was in der Welt vor sich geht", wagte Idril, ihn zu unterbrechen.
"Es scheint, so, so. Kleine Elfe, seit Anbeginn dieser Existenz sammeln wir Wissen in jeglicher Form. Ich versichere dir, wir sind mittlerweile sehr... begabt, was das Erlangen von Wissen betrifft. Doch reden wir nicht über unsere Rasse. Wir sind hier wegen des Wissen, das du uns geben kannst." "Unsinn", verteidigte sich Idril. Man konnte sagen, Freudes Worte bereiteten ihr Unbehagen. Eine Untertreibung.
"Welches Wissen könnte ich schon für euch bereithalten?" "Du hast eine besondere Beziehung zu Drachen, kleine Elfe", entgegnete Freude beiläufig. Er fing an, sie zu umkreisen, wie ein Raubtier. Ein passender Vergleich, wo die Anomalien von Idril doch als ihrer Beute dachten. "Und mehr noch, du hast eine besondere Beziehung zum Schicksal. Ich sehe die Strukturen förmlich beben, wenn du auch nur einen Schritt tust! Wohin du auch gehst, sterben Menschen, damit du überlebst, um den Weg zu gehen, der dir bestimmt ist." "... Strukturen?", fragte die 'kleine Elfe'. Neugier mischte sich zu ihrer Furcht. Doch Freude war nicht gewillt, sie über dieses Thema zu belehren. "Nichts, was ein Wesen wie du verstehen könnte. Ihr tut, wozu ihr auserkoren seid und sterbt dann. Auf irgendeiner unbedeutenden Welt erzählen sie dann vielleicht eine Legende über euch, bis diese Welt dann untergeht. Wie sinnvoll mutet doch eure Existenz an!"
Er hielt inne.
"Das Feuer ist erloschen", stellte Freude fest. Er stieß mit dem Fuß gegen die verbrannten Äste, die die Flammen genährt hatten. "Wie seltsam. Gerade wo ich vom Weg alles Sterblichen sprach." Er sah Idril an. Sie brachte den Mut auf, sich zu ihm umzudrehen. "Hast du denn gar nichts zu sagen, kleine Elfe? Nichts außer ein paar einzelnen Worten? Wie denkst du über den Sinn deines Lebens?" Es war eine rhetorische Frage. "Es spielt keine Rolle. Nur die Souveränen kennen den Sinn. Und jene, die über ihnen stehen. Lass uns jetzt gehen, kleine Elfe. Wir haben viele, viele Fragen an dich. Sicher wäre es dir lieber, wir stellten sie dir an einem wärmeren Ort, hm?" Er strich sanft über ihre rechte Wange.
Sie stieß seine Hand weg und trat rasch einen Schritt zurück. Freude zollte ihr einen anerkennenden Blick. "Je mehr ich rede, desto weniger fürchtest du dich vor mir. Gut. Es wäre schade, würdest du es später vorziehen, zu schweigen." Er nickte seinen Geschwistern zu. Geschwind ergriffen sie Idril, die sich mit aller Kraft wehrte. Der ersten, die sie anrührte, brach sie das Genick. Schnell und effektiv. Doch das übernatürliche Wesen ließ sich dadurch nicht aufhalten. Rasch wurde die Elfe überwältigt.
Neugier, die sich bis jetzt nicht gerührt hatte, musterte das Ringen einen Moment, bevor sie einen Zauber webte.
Es war wohl an sich ein schwieriger Zauber, doch sie führte ihn ohne jede Mühe aus. Die Luft begann zu flimmern, bei jeder Bewegung ihrer geschickten Hände. Risse im Gefüge dieses Ortes zeichneten sich ab, die sie erweiterte. Wie nasses Papier zerfetzte sie den Höhleneingang. Den Höhleneingang, der nun nicht mehr in die Berge führte, über denen der Sturm noch immer tobte. Neugier hatte ein Portal zu einer kleinen Kapsel aus Wirklichkeit außerhalb der Realität geschaffen. Selbst den erfahrensten Magiern war es schwerlich möglich, so etwas ohne Hilfe zu leisten, aber sie hatte es alleine und schnell vollbracht. "Wir sollten nun gehen." "Ja", war alles, was Freude auf ihre Worte erwiderte. Sie schritten durch einen Vorhang aus gleißendem Licht.
Es blendete Idril und brannte in ihren Augen. Es musste ein Gefühl sein, als würde einem plötzlich der Boden unter den Füßen weggerissen und trotzdem war da noch immer ein Weg. Man fühlte ihn und wusste, auf ihm ließ es sich sicher wandeln. Und zugleich diese Ahnung, frei in der Luft zu schweben. Es war verwirrend, zweierlei Dinge zu spüren, wenn nur eines von ihnen sein konnte. Sie versuchte einen Schritt zu machen. Ihre Füße bewegten sich, aber nicht sie hatte den Schritt getan. Es war, als hätte eine andere Kraft ihn gelenkt. Noch ein Schritt. Und noch einer. Dann sah sie ein, dass sie sich der Führung dieser Kraft überlassen musste.
Sie gab auf.
Sterne rauschten an ihr vorbei. Sie sah Welten, sah Zivilisationen auf ihnen entstehen und vergehen. Leben kam und verging. Da! Ein kleines Universum, wie es in sich zusammenfiel. Der Anblick war schön und schrecklich zugleich. Und dies' hier! Sah so ein Stern aus der Nähe aus? Eine Ahnung unbeschreiblicher - tödlicher - Wärme erfasste sie. Und dort! War dies auch ein Stern? Er sah gänzlich anders aus, kein lodernder Feuerball innerhalb schwarzer Leere, sondern zwei nebelgleiche Schwaden in leuchtendem Blau, die um einen Punkt kreisten. Und dieses Gebilde dort, gleich einer Spirale! Was...
Beinahe wäre sie gestürzt. Freude und Neugier standen sicher auf dem Boden, aber die Anomalien, die Idril festhielten, taumelten, manch eine mehr als andere. Die, die Asterinian eher ähnelten, schienen unsicherer und wankender. Sofort wusste sie, dass es an ihrer Jugend lag. Sie waren solche Reisen, genau wie die Elfe, nicht gewohnt und besaßen wenig Erfahrung mit solcher Magie. Diesen Zug zu entdecken, verschaffte ihr etwas Beruhigung, auch, wenn sie während ihrer Reise von neuerlicher Angst überkommen worden war.
Wehmütig sah sie zu, wie Neugier das Portal versiegelte. Der Anblick der Sterne... Sie sehnte sich danach...
"Hebe dir deine Sehnsucht für die Berge auf, kleine Elfe", unterbrach Freude ihre Gedanken. "Das Universum ist ein beeindruckender Anblick. Ich weiß, dass du die Sterne erneut sehen willst. Vielleicht. Doch unsere... Fragen... sind wichtiger." Und damit führte er sie in die verdrehteste Stadt, die sie je gesehen hatte.
Sie sah wohl so aus, wie Lunargentum, obwohl sie ungleich größer war. Idril entdeckte beschauliche kleine Reihenhäuser. Große Gärten. Weite Plätze, mit prunkvollen Springbrunnen und Statuen. Tempel. Anwesen, wie sie wohl reiche Kaufleute und Adelige bewohnen mochten. Wachtürme. Ein Kontor. Wirtshäuser. Ein Markt, mit Ständen, deren Waren unter bunten Markisen verborgen lagen. Läden. Ein Fluss, über den eine große, herrlich anzusehende Brücke führte. Dort, in der Ferne, ein Hafen! Und eine beeindruckene Festung!
Und all dies...
Es war, als hätte man diese Stadt genommen und zu einer Röhre gedreht. Idril konnte sehen, wie über ihr Anomalien über die Straßen flanierten. Einige hoben die Köpfe, um die Neuankömmlinge zu mustern. Wer von ihnen hatte das 'richtige' Oben? Und die Gebäude! Vor allem die Türme! Sie wanden sich wie Schlangen! Und dieses feudale Anwesen dort! Die entfernte Seite schien kleiner zu sein, aber nicht wegen der Entfernung. Es sah vielmehr so aus, als hätte man es so errichtet! Und wiederum andere Bauten waren von einer merkwürdigen weißen Masse überwuchert.
Bei all den Eindrücken, die sie überfluteten, fiel es Idril schwer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, aber ihr fiel auf, dass diese letzten Gebäude häufiger als alle anderen von Anomalien betreten und verlassen wurden. Wie sie dort wanderten...
Tausende von ihnen.
Und Freude führte sie auf eine dieser... Wucherungen... zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie mitten in der Luft schwebten. Schwindel ergriff sie, als Oben und Unten sich mit jedem Schritt ein Stückchen mehr vertauschten. Sie schüttelte den Kopf, um selbigen zu klären. Sie bemerkte, dass vom Hafen her Sonnenlicht in die Stadt drang, doch vom Meer weg führten all die Straßen nur in Dunkelheit. Es gab soviel zu entdecken! Ihr schauderte. Die Anomalien erinnerten sie an das Universum. Was sie taten, war so schön und schrecklich, wie die Sterne. Gerne hätte sie diese Stadt erkundet. Doch wieder einmal dringt die Furcht in ihr Herz ein, als sie an ihre bevorstehende 'Befragung' denkt.
Im Widerstreit von Angst vor ihren Feinden und Verzückung über deren herrliche Heimat, folgt sie Freude ohne Widerstand.