In den Straßen Lunarghentums war es nun ruhig. Dicke Schichten Staub lagen zwischen den einzelnen Häuserreihen und nur gelegentlich war ein unterdrücktes Jammern oder fernes Wehklagen der Verletzten und Zurückgebliebenen zu hören. Grausames Schlachten und ohrenbetäubende Erosionen und Explosionen in allen Stadtteilen waren fast genauso verstörender Leere und Leblosigkeit gewichen.
Zohani fand sich in einer Ecke des Schankraumes am Tisch sitzend, Milianra grinste ihr fröhlich entgegen.
Die ganze Schlacht über hatte Zohanis Wange geschmerzt, und auch jetzt war er noch nicht ganz verblasst. Es schien ganz offensichtlich, als ob die – zumindest mentale - Verbindung, die zwischen ihr und dem sonderbaren Mann namens Shuhoku bestand, sie körperlich nicht unberührt ließ. Gedankenverloren strich sie sich über die Wange und das nicht direkt spürbare Zeichen darauf. Milianra schien ihre Gedanken zu lesen. „Es nimmt einen rötlichen Stich an“, wisperte sie. „Ah“, war alles, was Zohani auf die Schnelle daraufhin einfiel. Die Sache war schon unheimlich genug, da wunderte sie so etwas auch nicht mehr sehr.
Sie zuckte also mit den Schultern und winkte dem Wirt, ihnen Bier zu bringen.
Die beiden sprachen schon bald über dies und das, doch Zohanis Gedanken schweiften ständig ab. Sie stellte fest, dass ihr das in letzter Zeit häufiger passierte. War sie irgendwie verwirrt? Setzte ihr das ganze Schlachten auf Dauer zu? Sie musste innerlich lächeln, obgleich es ein freudloses Lächeln war. Oh, das Schlachten … das war doch schon vor langer zur Gewohnheit geworden. Sei es der Kampf ums schiere Überleben oder das wilde Piratenleben mit zahllosen Überfällen auf unschuldige Handelsschiffe. Ihr Schwert hatte sie in den letzten Jahren durch so viele Kämpfe begleitet, dass sie sie nicht mehr zählen konnte. Und der Panzer, den sie sich geschaffen hatte, würde mit jedem Kampf nur noch dicker werden, würde seine unzähligen Kerben überdauern, was sie von keinem anderen Soldaten einer echten Armee unterschied. Das war die ganze letzte Zeit ihr Weg gewesen. Nun war Milianra hier. Eine Person, für die sie bereits gekämpft hatte, und auch noch kämpfen würde, ja, für die sie vermutlich ihr Leben geben würde. Doch würde es etwas ändern? Würde es ihren Weg verändern? Ein Stich, wohlgemerkt, an die entsprechende Stelle, würde ihren Panzer jedenfalls brechen, ihn aufklappen wie eine Muschel, und ihr verschlossenes Inneres zerreißen. Würde sie Milianra verlieren, das war ihr bewusst, würde sie auch den Glauben an sich selbst verlieren. Aus diesem Grund war sie bisher Einzelgängerin gewesen. Sie hatte sich mit ihren Piratenkameraden betrunken und Abenteuer erlebt, aber letzten Endes waren sie weiterhin Verbrecher geblieben. Verrat war nie undenkbar gewesen, und die Zusammenarbeit diente mehr dem Zweck als der Freundschaft. Und die Armee ... tja, das war ebenfalls Kameradschaft, aber für sie immer noch nichts weiter als die Armee. Und nach ein paar Jahren des Dienstes war sie auch dort abgemustert.
Sie wusste, dass diese Bindung ihren Pfad verengte, jeden ihrer Schritte auf dem gefährlichen Weg der Gefährten zum möglichen Verhängnis machte. Bereitete ihr das die letzten Tage, oder besser, die letzten Stunden, so viele Gedanken? Oh, eine Stimme in ihrem Kopf. Eine Bestätigung für ihre Zweifel, einen verborgenen Wahn? Oder doch nur dieser Fremde, welcher so plötzlich mit ihr in Verbindung stand?
“Bingo. Es tut mir Leid, Schätzchen, dass ich dich so belästigen muss. Ich fürchte, ich trage zu einem Großteil die Schuld daran, solltest du dich zeitweilig ein wenig unkonzentriert fühlen.“
Das soll ja wohl ein Witz sein.
„Ich durchstöbere dein Gedächtnis auf der Suche nach Informationen über dein Vergangenheit. Keine Sorge, das wird bald wieder aufhören. Dich interessiert es aber möglicherweise, dass du für jemanden eine sehr wichtige Rolle spielst.“
Was fällt Euch eigentlich ein?
Ja, Zohani war angemessen aufgebracht.
… ich möchte jetzt wissen, wer ihr seid und was ihr von mir wollt. Ich lasse mich nicht kontrollieren oder benutzen.
„Es tut mir Leid, diese … Entschlossenheit von dir zu hören, denn sie wird dir leider nicht viel nützen. In manchen Bereichen ist dein Wille … nicht von Bedeutung. Doch ich kann deine Forderung nach einer Erklärung verstehen. Du wirst sie bekommen, bald. Dein Schicksal wandelt sich, in gerade diesem Moment. Neue, zuvor gänzlich unbekannte Gesichter werden bald auf dich herabblicken, deine Taten genau beobachten. Man hat sich dazu entschieden-„
Ich will jetzt Erklärungen, keine Prophezeiungen. Ihr, geheimnisvoller Mann, werdet mir nun sagen, was ihr mit mir vorhabt und worum es hierbei geht.
„Schön, so sei es. Erschrick nicht, ich werde dich mitnehmen. Bist du bereit, einem Gott gegenüberzutreten?“
…
Was?
Dunkelheit. Schatten. Blendendes Licht. Sie spürte ihre Seele, frei im Raum schwebend, körperlos. Eine andere schwebte ganz in der Nähe. Bläuliches Schimmern umgab sie, rotierte in wilden, konturlosen Spiralen um sie herum. Bruchstücke von Erdboden rasten über ihnen, seitlich von ihnen und unter ihnen vorbei, einzelne Häuser verschiedener Zivilisationen, Städte, Flüsse. Es formten sich vereinzelte Wolken über ihnen, verpufften wieder, rasten hin und her, ohne Ziel.
Das Wirbeln verblasste und um sie herum entstand langsam ein Raum. Zohani sah bald wieder ihre eigenen Hände vor Augen. Sie befanden sich in einem altmodisch eingerichteten Flur. Der Mann namens Shuhoku manifestierte sich links von ihr, machte eine unscheinbare Geste mit der rechten Hand, und sie sah kurz sich selbst in der Taverne sitzen, scheinbar über ihrem Teller zusammengesunken, von Milianra vorsichtig angestupst. Der Flur, welcher sich vor und hinter ihnen erstreckte, zog sich weit in die Länge, bis er irgendwo vorne einen scharfen Knick machte, sodass man ein Fenster mit Blumen auf dem Sims erkennen konnte. Ein roter Teppich zog sich über den Boden, links und rechts standen Büsten Zohani unbekannter Krieger und Kriegerinnen, vereinzelter Magier und scheinbar wichtiger Persönlichkeiten. Gemälde hingen links und rechts an den Wänden, hauptsächlich Landschaftsbilder. Zwischen den Büsten standen verschiedene Pflanzen, viele von ihnen Zohani ebenfalls unbekannt.
„Komm bitte mit.“ Shuhoku ging los und führte sie eine Weile den Flur entlang, bis die beiden einige Meter weiter vor einer schlichten, nicht weiter verzierten Tür Halt machten. Zohani fiel auf, dass der Mann seine Kleidung gewechselt hatte. Er trug einen unscheinbaren Kimono und hatte die langen Haare zum Zopf gebunden. Er klopfte kurz an. Es erklang kein „Herein“, doch wie auf ein unbekanntes Zeichen hin zuckte seine Hand einen Moment später zur Türklinke und öffnete sie behutsam. Leises Knistern von Feuer schlug ihnen entgegen. Shuhoku lächelte. „Ach, diesen Raum hat er sich ausgesucht.“ Zohani sah den Mann unverständlich an. Seltsamerweise machte sie sich nicht allzu viele Gedanken darüber, wie sie hierher gekommen und wo sie überhaupt waren. Sie akzeptierte es einfach. „Die Räume in diesem Anwesen wechseln ihre Plätze immer wieder. Ich versuche schon seit langer Zeit, das System dahinter zu erkennen, sollte es eines geben, aber bisher ohne Erfolg. Naja, sie sehen sowieso sehr ähnlich aus, in jedem dritten steht ein großer Kamin.“ Er brach ab und zuckte die Schultern. „Komm doch bitte herein“, kam es nun von drinnen. Zohani betrat den Raum, und sie spürte, dass Shuhoku bei der Tür stehen blieb, gegen den Rahmen gelehnt. Der Raum war nicht besonders groß, ein Teil seiner Fläche wurde von einem großen Steinkamin und davor aufgestellten Ohrensesseln eingenommen. An der Seite gab es mehrere kleine Fenster, direkt in die Steinmauer eingelassen, welche den Blick auf einen Innenhof freigaben. Die Decke war nicht besonders hoch, doch es stellte sich keinen Falls irgendein Gefühl von Platzmangel ein, eher im Gegenteil. Etwas Unbekanntes haftete dem Ort an, was ihn räumlich weiter erscheinen ließ. Zohanis Blick endete bei dem runden Tisch hinter den Sesseln, an welchem ein Mann saß. Sie versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren, doch seine Gestalt entzog sich immer ihrem Blick, und es blieb zunächst bei den Umrissen, welche sie erkennen konnte. Er saß ein wenig gebückt da, was sie auf zunehmendes Alter schließen ließ, doch hatte einen mächtigen Rücken, der davon zeugte, dass er einmal von gewaltiger Statur gewesen sein musste, und Arme von nicht zu verachtender Größe, welche entspannt auf der Tischplatte ruhten. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Der Mann schien sich seiner äußerlichen Erscheinung bewusst zu werden und zuckte kurz zusammen. „Verzeihe mir die Unhöflichkeit, mich dir so unkenntlich vorzustellen.“ Er schien schärfere Konturen anzunehmen und sie machte schnell ein Gesicht aus, Haare, Kleidung. Der Mann war tatsächlich schon älter, zumindest, was sein Aussehen betraf. Die Haare waren ergraut und um seine Augen lagen viele kleine Fältchen. Seine Haut hatte einen gesunden Ton und seine Augen strahlten eine verborgene, in Zaum gehaltene Intelligenz aus. Er hätte als freundlicher Großvater durchgehen können, wäre da nicht seine ungewöhnliche Statur.
Der Mann trug ein fein gesticktes Oberteil in dezent gehaltenen, ruhigen Farben, wie es viele der Bürger der oberen Schicht der Südländer trugen. Davon abgesehen trug er keinerlei Schmuck.
„Du kommst früher als ich es erwartet habe.“ Du siehst aber überhaupt nicht überrascht aus.
Er schien ihre Gedanken zu lesen. „Ich beobachte dich schon länger, Zohani, Tochter von Jirash Kha von den Jao Thin Bea. Um genau zu sein, seit du deiner Gruppe von Gefährten beigetreten bist, was jedoch nicht ausschließlich der einzige Grund für meine Aufmerksamkeit ist.“
„Wer seid ihr also? Und was wollt ihr von mir?“
„Die beiden am meisten berechtigten Fragen, die du mir stellen kannst, und die ich dir mit Sicherheit schuldig bin.“ Der Alte lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete seine Hände. „Man hat mir inzwischen verschiedene Namen gegeben. Ich nenne mich selbst Eomer.“ Zohani spitzte die Ohren. „Bei dir, oder besser gesagt, bei deinem Volk werde ich Ymar genannt, der Kriegsgott der Jao Thin Bea.“ Sie öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Ihre Wut war verraucht. Derjenige, der seine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatte, war niemand anderes als ihr Gott. „Ymar, mein Wille, mein Gott.“ Sie sprang vom Stuhl auf und machte Anstalten, niederzuknien. Ymar hob eine Hand und ließ sie in der Bewegung verharren. „Das ist nicht nötig. Obgleich ich dein Gott sein mag, lege ich immer noch Wert darauf, mir den Respekt, der mir entgegengebracht wird, auch zu verdienen. Und bisher habe ich mir davon noch nicht allzu viel verdient, auch wenn es nicht meine Schuld sein mag.“ Zohani schüttelte den Kopf. „Deinen Namen trage ich in der Schlacht auf den Lippen, und für deinen Namen gebe ich auch mein Leben, denn du bist mein Gebieter, Höherer.“
Ymar lächelte sie beinahe freundlich an. „Damit dienst du nicht nur deinem Gott, sondern auch dir selbst. Denn dein Gott ist es, der dir im Gegenzug deine Bürden nimmt.“ Zohani nickte wissend, denn das wurde ihr schon von Kindesalter an beigebracht.
„Ich möchte dir nun also sagen, warum du hier bist. Letzten Endes wandelst du dich zu einer Figur, die das Gleichgewicht bewahren soll. So, wie es auch viele deiner Gefährten betrifft. Denn das Gleichgewicht wird immer wieder gestört, und sollte es gestört werden, wird zwangsläufig irgendwann eine Reaktion darauf stattfinden.“
„Ihr redet von einem Gleichgewicht. Worauf bezieht ihr euch?“
„Es mag weit hergeholt klingen, doch im Grunde kommt das Wesen der Menschen, und nicht nur der Menschen, sondern auch sämtlicher anderer Rassen in den verschiedensten Sphären, Dimensionen, Universen, … einer Wagschale zwischen Gut und Böse gleich. Gutes kann sich mit Bösem vermischen, Böses kann gut erscheinen, Gutes böse, doch wenn eines von beidem in seiner tatsächlichen Form das andere überwiegt, muss die andere Seite dem entgegenwirken. Ein gewisses, mächtiges Wesen hat vor einiger, nicht bestimmbarer Zeit gegen dieses Gesetz der Gleichheit verstoßen, und das hat unweigerlich zur Folge, dass als Reaktion darauf ein Gegenpol entstehen muss. Auch du hast hierbei deinen Platz in einem Spiel, das sich über mehr als nur ein paar Nationen erstreckt. Meine Aufgabe ist es, dich zu leiten, als dein Gott deine Position in diesem Spiel klarzustellen.“
Zohani runzelte die Stirn. „Ich soll jetzt die Weltenretterin markieren?“ „Unterschätze deine und die Rolle deiner Gefährten in eurer Welt nicht, meine Liebe. Hinter den Schlachten, die ihr schlagt, steckt mehr, als Vereinzelte vielleicht denken, und manche von euch wissen das bereits. Trotz allem erscheinen beispielsweise deine und meine Position in Anbetracht derjenigen, die über uns stehen und über unsere Wege bestimmten, nicht besonders wichtig.“
Zohani hatte Mühe, seinen Erklärungen zu folgen. „Und was genau ist nun meine Aufgabe?“ Ymar seufzte. Zohani glaubte, ein kurzes Aufflackern in seinen Augen zu sehen, doch sie schien sich getäuscht zu haben, zumindest sprach er normal weiter: "Euer Weg führt deine Gefährten und dich in die Berge. Dort wird sich auch dein eigener Weg fortführen, der Weg, den du im Namen deines Volkes einschlägst.“
„Was ist das für ein Weg?“ „Du musst lernen, dich in Geduld zu üben. Ich kann dir noch nicht alles Weitere enthüllen … jede Seele braucht Zeit, um aufzunehmen, und diese Bürde würde dich, übertrüge ich sie dir jetzt, fürchte ich, zerbrechen. Du wirst dich weiterentwickeln.
In den Bergen wirst du eine Waffe finden, die deiner Rolle zugeteilt wurde. Bis dahin … wirst du gestärkt werden für das, was kommt. Meiner Meinung nach wäre es langsamer geschehen, als es bis jetzt der Fall war, doch vielleicht habe ich in meiner Abwesenheit ein wenig das Taktgefühl verloren. Also hat Shuhoku dich hierher gebracht, damit du Antworten auf deine Fragen erhältst. Du hast sicherlich das Zeichen auf deiner Wange bemerkt … ein Vorzeichen für das, was kommen wird, und ein Zeichen der künftigen und auch jetzt schon bestehenden, wenn auch noch unbekannten Bürde, die dir auferlegt wurde. Shuhoku wird in nächster Zeit öfter mit dir in Kontakt treten, um dich über verschiedene Dinge aufzuklären.“
„Wo werde ich das Schwert in den Bergen finden?“ „Du wirst es finden, mache dir um den Ort und den Zeitpunkt keine Gedanken.“ Der Gott wirkte plötzlich … müde. „Wenn du es erlaubst, ich hatte einen langen Tag. Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn wir unser Gespräch an dieser Stelle beenden.“ Damit stand er auf, kraftvoll und mit eleganter Bewegung, sein scheinbares Alter Lügen strafend. Zohani überlegte, was sie ihren Gott fragen könnte, doch tatsächlich hatte sie keine weiteren Fragen mehr. Obwohl …
„Wenn Shuhoku das nächste Mal mit mir in Kontakt tritt, können wir es dann bitte ein wenig … schmerzloser gestalten?“ Ymar schaute kurz überrascht, doch nickte dann in Richtung Shuhoku. „Wir haben einen Weg gefunden, und wir sind dabei, ihn zu verfeinern, damit er auch Shuhoku keiner Gefahr aussetzt. Sobald ihr die Berge durchquert habt, wird dieses Problem sowieso nicht mehr existieren.“
Zohani fragte nicht weiter nach, nickte erleichtert und schwieg. „Nun, Schätzchen, Shuhoku wird dich nun zurückbringen. Und halte dich immer an die, die dir am nächsten sind.“ Bei den letzten Worten hatte er ihr fest in die Augen gesehen, und sein plötzlich sehr energischer Tonfall beunruhigte sie. Dann löste sich alles vor ihr auf, und sie wurde von klingendem Bierglas geweckt, das durch den Schankraum herbei getragen wurde.
„Du hast ihr nicht viel gesagt – nicht viel Wichtiges über sie.“ „Ich weiß … wie ich auch gesagt habe, denke ich nicht, dass die Zeit schon reif ist. Bereite sie gut darauf vor, Shuhoku.“ „Das werde ich. Die Hochelfe Milianra wird sie ebenfalls stärken.“ Eomer nickte, Shuhoku hatte Recht. Er musste Recht haben. Sie konnten es sich nicht leisten, mit Zohani letzten Endes zu versagen. Ihre Entschlossenheit machte sie für die ihr zugedachte Rolle geeignet. Doch zu viel von ihrem Feuer würde sie verbrennen – sie brauchte Freunde an ihrer Seite, die sie stützen würden, sollte sie taumeln. Vielleicht hatte die Elfe namens Milianra kürzlich doch ein Schicksal bekommen?
Er unterbrach seine Gedanken und nickte Shuhoku zu, der kurzweilig verschwunden war, um Zohani zurück zu bringen. „Ich werde mich ein wenig hinlegen.“
„Natürlich.“
„Du kannst ja schon mal nach dem Abendessen sehen.“
Shuhoku nickte. Er hatte sich bereits ein paar neue Rezepte einfallen lassen.
Die beiden verließen den Raum.
„Zohani? Alles in Ordnung?“
„Äh … ja … ich bin wohl kurz neben mir gewesen.“
„Du bist ganz plötzlich auf der Tischplatte zusammengesackt.“ Milianra stand die Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben.
Zohani murmelte ein „Entschuldigung“ und schob es auf die kräftezehrende Schlacht. Ihre Freundin betrachtete sie eingehend. „Hast du irgendwas auf dem Herzen?“
Sie ließ den Blick kurz schweifen. „Ich fühle mich nur so … haltlos. Die letzten Tage waren ziemlich anstrengend.“ Sie wusste, dass es nur die halbe Wahrheit war, und sie würde Milianra später noch von dem Treffen mit ihrem Gott erzählen.
Die Elfe langte über den Tisch und erfasste ihre Hände, lächelte sie liebevoll an. „Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass wir uns die nächsten Tage richtig entspannen, nicht wahr?“ Sie machte eine kurze Pause, wartete, bis Zonanis Bestätigung kam und fuhr danach fort.
„Wir haben uns eigentlich noch so viel zu erzählen, findest du nicht auch? Ich weiß ja gar nicht genau, wo deine Heimat liegt, wer deine Eltern waren, was du bisher in deinem Leben gemacht hast, von der Zeit als Söldnerin einmal abgesehen. Ich würde es gerne von dir erzählt bekommen.“
Zohani nickte und fing an: „Ich erzähle dir gerne aus meinem Leben. Das meiste habe ich einfach an mir vorbeigehen lassen und mich daher nicht um meine Vergangenheit gekümmert. Deshalb spreche ich auch nicht viel darüber …
Ich war ein kleines Kind, als ich noch mit meinen Eltern zusammen im Dorf meines Stammes wohnte. Die Jao Thin Bea hatten zu dem Zeitpunkt mehrere Stämme, welche untereinander zwar nicht miteinander in Konflikt standen, jedoch keine einheitliche Nation bildeten, sondern jeder für sich lebten und nur manchmal auf einander zu sprechen kamen, beispielsweise bei Fragen wie der, welchem Stamm welches Jagdgebiet zugeteilt wurde. Als ich elf war, bin ich auf See gegangen, dabei bin ich heimlich bei Piraten untergetaucht. Ich wäre beinahe getötet worden, als man mich entdeckte, aber dann hat man mich in die Mannschaft aufgenommen.“
„Und sie haben dir nichts getan?“
„Ich war zwar die einzige Frau an Bord, doch der Käptn war freundlicher als erwartet und hat keine Übeltaten zugelassen. Ich glaube, der hatte einfach nur Abenteuer im Sinn …“
„Das war ein junger Mann?“
„Ja, der Großteil der Mannschaft war so alt wie wir es jetzt sind. Aber wie auch immer … der Kapitän wurde später in einem Kampf gegen Seesoldaten der Südländer getötet. Und ich bin … übergelaufen.“ Milianra sah, wie ein Schatten über das Gesicht ihrer Freundin huschte. „Du hast die Mannschaft gemocht, oder?“ „Es war sicherlich falsch, was wir gemacht haben. Handelsschiffe überfallen - und meistens versenkt, da wir auf sie verzichtet haben -, Männer getötet, keine Gefangene gemacht. Trotzdem hatte ich mich an meine Kameraden gewöhnt. Ich war dann vielleicht fünfzehn, als wir von drei Schiffen der Armee angegriffen wurden. Die Jungs haben tapfer gekämpft.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Eine Handvoll Überlebende ergab sich schließlich und wurde gefangen genommen, ich gehörte dazu. Man hat mir Straferlass gewährt, weil man dachte, ich wäre Gefangene der Piraten gewesen und man hätte mich zum Kämpfen gezwungen.“ Sie schnaubte. „Ich hab vier Soldaten getötet.“ Milianra hörte ihr aufmerksam zu.
„Naja, dann war ich also ab sofort eine Seesoldatin. Da war das Leben nicht ganz so wild wie bei den Piraten, aber immer noch aufregend genug. Es gab den ein oder anderen harten Kampf, und wir waren fast pausenlos auf See, haben nur ab und zu Zwischenstopps gemacht, um Vorräte aufzufüllen oder anderen Schiffen zugeteilt zu werden .
Und es ist nicht lange her, seit ich dann die Armee verlassen und mein Geld als Söldnerin verdient habe. Dabei bin ich dann auch bei einem Eskortier-Auftrag nach Scho’Kolad gekommen.“
„Ich finde die Geschichte ziemlich spannend.“ Zohani lächelte ihre Freundin an. Plötzlich brannten unzählige Fragen in ihr. Sie wollte an vorderster Stelle wissen, wie denn Milianras Vergangenheit aussah.
Diese fragte: „Warum hast du deine Familie eigentlich verlassen?“
Zohani ließ kurz die Gedanken schweifen und ließ sich Zeit mit der Antwort. „Ich glaube, ich wollte einfach was Neues sehen. Sicher, wir hatten unser Land, unsere Berge, Täler, Flüsse, unser Vieh und unsere Traditionen, aber alles schien so eingeschlafen. Du musst wissen, dass unsere Zivilisation nicht sehr weit fortgeschritten war. Wir waren immerhin in verschiedene Stämme unterteilt. Manchmal denke ich an meine Familie … was wohl aus ihnen geworden ist. Wahrscheinlich werde ich sie nie wieder sehen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Aber sie werden verstehen, warum ich sie verlassen habe. Wie sieht es denn bei dir aus?“
Damit endete sie und wartete gespannt, ob Milianra etwas über sich erzählen würde.