Die Gruppe setzte ihren Weg ohne größere Unterbrechungen fort. Doch ruhig war der Ritt keineswegs, stellte Asterinian doch dutzende von Fragen. In der gestrigen Nacht hatte er viel erfahren und es gab viele Details an den Lebensgeschichten seiner Gefährten, die er nicht verstand. Manchmal wurde das reichlich unangenehm, so erkundigte er sich bei Zohani sowohl nach der Beziehung zu ihren Eltern (Familie war etwas, das ihn sehr interessierte) als auch dem Weg, der sie zu den Seesoldaten geführt hatte. Beides Fragen, deren Antwort die junge Frau verweigerte. Die Weigerung zog wiederum neue Fragen nach sich, denen Rhianon, die sich besser mit Asterinians Wesen auskannte, ein Ende bereitete. "Möchtest du... über das reden, was kürzlich an dem See passiert ist?", flüsterte sie. "Nein. Ich weiß nicht warum, aber... Da ist so ein Gefühl..." "Ist es unangenehm?" "Ja, und es tritt auf, wenn ich an diese Ereignisse zurückdenke." "Zohani mag es vielleicht ähnlich gehen." "Ich verstehe."
Immerhin, die Söldnerin ließ er danach in Ruhe. Rhianons Argumentation war ebenso kurz wie treffend. Leider musste sie feststellen, dass die Neugier der Anomalie sich jetzt auf sie richtete. "Wie nennt man dieses Gefühl?" "Angst." "Ist es dasselbe wie bei Zohani." "Nein, sie empfindet ein anderes, wenn sie sich zurückerinnert, da bin ich mir sicher", erklärte sie geduldig und langsam sprechend. "Wie nennt man dieses andere?" "Ich weiß nicht. Es gibt viele mögliche Gefühle. Ich möchte es auch nicht wissen, es geht uns beide nichts an." "Warum nicht?" Sie seufzte. "Asterinian, hast du mir vorhin nicht zugehört?" "Doch. Aber ihr habt euch lediglich darauf bezogen, dass sie womöglich nicht über ihre Erinnerungen reden möchte, weil es diese Gefühle heraufbeschwören könnte. Ihr habt keineswegs gesagt, dass es falsch sei, über die Gefühle an sich zu sprechen."
Das verschlug ihr die Sprache und für einen kurzen Moment konnte sie sich nicht erklären, warum. Aber es wurde ihr schnell klar. In der kurzen Zeit, die sie ihn kannte, hatte sie sich daran gewöhnt, dass er alles als gegeben erachtete, was man ihm sagte. Nein, falsch, das war es nicht. Was... Genau. Die "Lücke". Hatte Asterinian je nach Schlupflöchern gesucht? Nein, noch nie. Vielleicht war ihm diese Frage sehr wichtig? Sie wusste es nicht, denn sein Gesicht spiegelte keinerlei Entschlossenheit wider und die blauen Augen blickten so glasig wie eh und je. Vielleicht war sie auch einfach nur verwirrt, weil sie Widerspruch gesehen hatte, wo keiner war, oder weil er ihr tatsächlich einen kleinen Fehler nachgewiesen hatte.
Das änderte nichts daran, dass Zohanis Gefühle tatsächlich tabu für sie waren. Nur wie sollte sie ihm das nahebringen?
Sie atmete erleichtert auf (eine Geste, die Asterinian noch immer nicht zu interpretieren gelernt hatte), als sich die Situation von selbst löste. Denn Idril erklärte Ayla beflissen und schonend das Prinzip der Sklaverei. Das Mädchen war zwar zum Zeitpunkt des fröhlichen Geschichtenerzählens schon im Reich der Träume, doch musste sich das Wort gerade eben in den Redefluss der Dunkelelfin geschmuggelt haben. Somit war es an ihr zu leiden. "Also sind Lebewesen Gegenstände?", hörte Rhianon Asterinian fragen. Sie schmunzelte, als die panische Verneinung erfolgte. Die Krönung wurde es, als Idril sich selbst widersprach, sodass sie Heras' Unterstützung brauchte. Er erschien ihr fast... lebhaft, als er der Elfe Beistand leistete, so paradox das auch klingen mochte.
Heiterkeit herrschte auch an einem anderen Ort, doch war ihr Anlass keinesfalls so unbeschwert.
Freude verrenkte seinen Körper auf unmögliche Weise, als er sich, auf den weichen Seidenkissen liegend, zu Illustara wandte. "Ein Buch. Es muss mächtige Magie enthalten." "Wie mächtig?", fragte Neugierde, der bei Freudes Erzählung Speichel aus dem Mund lief. Niemand nahm daran Anstoß, schließlich tat das unappetliche Schauspiel der Tatsache, dass ihre Schönheit an die Illustaras heranreichte, keinen Abbruch. Ihr sinnlicher Körper trat deutlich unter dem roten Kleid hervor und ihr prachtvolles weißes Haar mit den dunklen Spitzen glitt bei jeder Bewegung dem Wasser gleich über den weichen Stoff ihres luxuriösen Lagers.
"Mächtig genug, um uns zu verletzen. Die Art, wie der Untote seinen Zauber nutzte, war bestenfalls stümperhaft, aber es scheint dem Celestion gleichzukommen." Die beiden Frauen zogen je eine Augenbraue hoch. Stolz in seinem braunen Gewand, der auf einem etwas höheren Kissenstapel saß, machte nur "Pah!" Freude lachte angesichts dieses Lautes. "Wenn ich es euch doch sage! Ich finde, Vollendung sollte uns Zugang zum semiperfekten Geist gewähren. Nur für kurze Zeit, damit wir lernen, unser Bewusstsein zu bewahren, sollten unsere Körper zerstört werden." "Du überschätzt diese Sterblichen. Sie könnten uns niemals gefährlich werden." Stolzes Stimme entbehrte des weichen, zauberhaften Klanges der seiner Geschwister. Nein, sie war von wahrer Macht und konnte niedere Wesen ganz ohne Magie beherrschen. Normalerweise hätte er schon längst tot sein sollen, doch er war neben Freude und Neugierde die mächtigste Anomalie unter den Erwählten und hatte noch nie bei einem Auftrag versagt.
Trotz all seiner Fähigkeiten war seine Weisheit gering. "Du irrst dich, Bruder", sprang jetzt Trauer ein. "Unser sinnloses Leben kann genauso leicht verlöschen wie das dieser armen Geschöpfe." Der Name war nicht wirklich passend, aber bei Pessimismus handelte es sich eben mehr um eine Einstellung. Die türkise Gestalt saß lustlos in einer Schale aus weißem Marmor, mit der sie sogar teilweise verschmolzen zu sein schien. "Es mag wohl stimmen, dass schwache Magie unser kaum existentes Fleisch nicht zu verletzen mag, genau wie Waffen aus selbst zauberkräftigstem Material, ja, nicht einmal solche aus Daedrium. Doch höhere Magie kann unserem Wandeln durch das Labyrinth der Bedeutungslosigkeit das eine, das Ende bringen, ebenso wie eine Klinge, auf der auch nur der geringste Zauber liegt." "Ach, sei still!", entgegnete Stolz verächtlich. "Man arbeitet daran, uns diese letzte natürliche Schwäche zu nehmen." "Ein Unterfangen, das noch immer keine Früchte trägt. Es wird niemals Früchte tragen... Ziele sind nicht zum Erreichen da... Wir können nur an ihnen verzweifeln..."
Allgemeines Gelächter folgte und Stolz, sich selbst immer als Zentrum allen Interesses und somit auch Ziel dieses Spotts betrachtend, verließ die Leere weißen Lichts, in der sie schwebten.
"Jedenfalls, Stolz irrt sich auch in einer anderen Angelegenheit. Nicht alle von ihnen sind sterblich... Ryu Kazuha ist bei ihnen." "Ryu wer?", fragte Illustara. "Ein Drache. Nur 100 Jahre älter als du", antwortete Neugierde. In ihrer Stimme lag Begeisterung. "In seinem Leben hat er schon viel gesehen, sagt Vollendung. Er könnte uns sehr bereichern... Vielleicht wäre einiges von seinen Erfahrungen sogar für den perfekten Geist geeignet!" Jetzt hing ihr Illustara an den Lippen. Sogar Trauer machte einen interessierten Eindruck. Einen ehrlich interessierten.
"Wir sollten ihn..." "... einfangen", beendete Freude den Satz. "Acht unserer Geschwister werden mich begleiten. Sie sind unterwegs ins Fünfhorn-Gebirge, einer ihrer Menschlinge hat daran gedacht. Aber wir sollten sie bei ihrer Rückkehr abfangen. Das macht die Überraschung umso größer. Nun?" "Ich werde auf jeden Fall mitkommen!", stieß Neugierde hervor. Sie schien regelrecht besessen von dem Gedanken, Ryu zu ergreifen. Und da war noch etwas. Mordlust glitzerte in ihren Augen. Es war das einzige, was man dem Gesicht einer Anomalie auch dann ablesen konnte, wenn sie sich verschloss.
Das selbe, unheimliche Leuchten erschien auch bei Illustara und Trauer. Ein Drache versprach einen guten Kampf! Nun ja, den Hort von Geladûn hatten sie regelrecht abgeschlachtet, aber dieser spezielle Drache war etwas anderes.
Freude klatschte zufrieden in die Hände. "Sehr schön. Wirklich sehr schön. Ein kostbares Buch und Erfahrungen aus 900 Jahren. Außerdem können wir unseren neuen Bruder endlich aufnehmen. Letztes Mal wurde die Zeremonie so unschön unterbrochen..." Illustara kicherte. "Darf ich...?" "Nur zu. Es schmerzt mich keineswegs, ihn dir zu überlassen. Schließlich ist diese Gruppe nicht ohne holde Weiblichkeit."