Inzwischen war es Mittag geworden. Zohani wurde von Kindergeschrei geweckt. Ihr Blick huschte hin und her, da sie schon befürchtete, es könnte ein Problem geben. Idril hatte sie gebeten, nach Ayla zu schauen und dafür zu sorgen, dass ihr nichts zustieß. Tatsächlich handelte es sich bei der Stimme um die Aylas. Doch als Zohani sie erblickte, verstummten die Alarmglocken in ihrem Kopf so schnell, wie sie gekommen waren. Das Kind spielte mit zwei anderen, die drei rannten quer über den Platz und versteckten sich zwischen den Trümmern.
Die junge rau überlegte, ob sie die Kinder nicht lieber einweisen sollte - schließlich konnte man nicht sicher sein, ob sich nicht noch etwas geährliches in den Schatten verbarg. Aber nachdem dieser Engel - oder was auch immer das für eine Gestalt gewesen war - aus dem Himmel herabgestiegen war und in die Hände geklatscht hatte, schien die ganze Stadt gesäubert zu sein. Sie zuckte also mit den Schultern und schaute dann nach ihrem Pferd, das sie sich zuvor ausgesucht hatte. Es hatte sich nicht von Ort und Stelle gerührt, soweit sie das beurteilen konnte, zumindest stand es noch immer dort, wo es gewesen war, als sie eingeschlafen war. Etwas ungläubig schüttelte sie den Kopf. Inzwischen mussten mehrere Stunden vergangen sein. Sie stellte fest, dass es sich um einen Hengst handelte, und auch erst jetzt fiel ihr auf, dass er einen kleinen weißen Fleck au der Stirn hatte. Das Tier trug noch das Sattelzeug seines früheren Besitzers. Pah, von wegen, ein Geschenk der Stadt und ihrer Bürger. Der arme Kerl, dem dieses Pferd mal gehört hat, ist in dem ganzen Gemetzel wahrscheinlich getötet worden. Wahr wohl auch ein Durchreisender oder so ...
Neugierig geworden, bewegte sie sich auf ihr neues Reittier zu. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an das Tier, auf dem sie in die Stadt geritten war, mit den anderen beiden Söldnern zur Linken und Rechten. Sie waren am Stadtrand abgesessen. In den ganzen Ereignissen der letzten 24 Stunden hatte sie gar nicht mehr daran gedacht, dass sie mit dem Pferd auch ihr Gepäck zurückgelassen hatte. Tja, das war nun also die fehlende Stadtkleidung, die sie dazu nötigte, weiter in ihrer, nunmehr praktisch nutzlosen, zerfetzten Rüstung herumzulaufen.
Sie seufzte. Doch vielleicht trug ja ihr neues Tier Gepäck bei sich. Sie stand nun neben dem Hengst, der vollkommen still dastand. Das Tier musste Menschen sehr vertraut sein - womöglich war es oft mit seinem früheren Besitzer zusammen gewesen. Sie zögerte nur kurz, dann legte sie ihm eine Hand auf den Hals. Darunter spürte sie den ruhigen Atem des Tieres. Der Hengst schnaubte plötzlich und zuckte mit dem Kopf zur Seite, weg von ihr. Aha, eine Klasse für sich? Zohani ging um das Tier herum, versuchte, es wieder zu beruhigen. Nach einer Weile gelang es ihr auch. Sie raunte dem Tier leise Worte zu, während sie sich an den Satteltaschen zu schaffen machte. Das Tier wieherte erneut auf, als es bemerkte, dass Zohani an den Inhalt kommen wollte, und stob davon. Es erwischte die junge Frau mit der Flanke, und diese landete im Staub. Fluchend rappelte sie sich auf. "So ein verdammtes ... ! Grrr, bei den Neun!" Mit zornig flackerndem Blick rannte sie hinter dem Tier her, das etwas entfernt wieder zum Stehen gekommen war. Das Vieh will mich wohl zur Närrin halten. Ich glaub, dem muss ich Manieren beibringen. Gewohnt selbstsicher, wie sie es meistens war, stapfte es zu ihm hin und sprang ohne weitere Zeremonien von hinten über sein Hinterteil und in den Sattel. Sie schaffte es gerade noch, in die Steigbügel zu kommen, als der Hengst lospreschte, Bocksprünge machte und ihr jede Menge Schwierigkeiten bereitete. Ihr Fluchen musste über den ganzen Platz geschallt sein, denn später sprachen sie mehrere der Dorfbewohner belustigt darauf an. Sie schaffte es, im Sattel zu bleiben, und nach einer halben Ewigkeit gab das Tier auf, als es bemerkte, dass es sie so nicht mehr loswurde. Erschöpft sank Zohani ein wenig im Sattel zusammen. "Genau das richtige, um einem die Schläfrigkeit zu nehmen.", brachte sie keuchend heraus. Dann presste sie fordernd die Beine gegen die Flanken des Pferdes. Es gehorchte schließlich, und sichtlich erleichtert ritt Zohani zurück zum Rathaus. Schließlich ließ das Tier sie auch an die Satteltaschen. Es schien Zohani als Besitzerin zu akzeptieren - vorerst. Sie hoffte, dass dies auch so bleiben würde. Hätte mir die Wahl wohl besser zweimal überlegen sollen ... Sie hatte öfters auf dem Deck eines Schiffes gestanden als auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Aus diesem Grund war sie mit diesen Tieren auch nicht allzu vertraut. Sie konnte natürlich reiten, aber perfekt war sie darin keineswegs. Sie wunderte sich immer noch darüber, wie sie den Ritt von gerade eben überstanden haben konnte.
In den Satteltaschen befanden sich tatsächlich noch Dinge. Als sie die lederne Klappe zurückschlug, entdeckte sie einen Kurzbogen, zusammen mit ein paar Pfeilen. Sie pfiff leise durch die Zähne. Er schien aus gutem Material gefertigt und sehr effektiv, soweit sie das beurteilen konnte. Sie kramte weiter. Sie fand eine zusammengefaltete schwarze Hose. Schwarz. Eigentlich zog sie lieber helle Sachen an, aber zumindest war das schonmal eine Kleidung, die nichts mit Kampf zu tun hatte. Also stahl sich kurz ein Lächeln auf ihr Gesicht, bevor sie weiter suchte. Insgesamt fanden sich in den Tiefen der Taschen noch ein dunkelblaues Hemd, das allerdings für Männer geschnitten war, außerdem ein Seil, vier kleine Messer, eine Steinschleuder, einen dünnen Draht und einen Gurt.
Als sie alles ausgepackt hatte, blickte sie zufrieden auf ihre neuen Habseligkeiten herab. Sie würde sich sogleich die neuen Sachen anziehen - auch wenn das ein Männerhemd war. Dann studierte sie den unscheinbaren Draht noch einmal. An den Enden war er dicker und mit Stoff umwickelt. Ein Würgedraht. Das alles hier musste einem verdammten Assassinen gehört haben. Sie verzog kurz das Gesicht. Irgendwie war es ihr unbehaglich bei dem Gedanken, in die Kleidung eines Berufsmörders zu schlüpfen. Doch dann schüttelte sie ihre Abneigung ab und band sich den neuen Gürtel um. Sie fand für alle Waffen, also die Dolche, die Schleuder, den Draht, das Seil und sogar die Pfeile, Halterungen. Sie hängte alles in die jeweiligen Gehänke, abgesehen von den Pfeilen, die sie zusammen mit dem Bogen wieder verstaute. Leider war sie keine gute Schützin, und somit hatte der Bogen für sie momentan wenig Nutzen. Vielleicht könnte sie sich das Schießen irgendwann einmal beibringen.
Nach einer Weile war sie dann auch in ihre neue Kleidung geschlüpft - dazu musste sie erst einmal einen Raum finden, der noch nicht abgebrannt oder zertrümmert worden war. Die Hose krempelte sie ein wenig hoch, genauso wie die Ärmel. Zufrieden lief sie ein wenig in der neuen Kleidung herum und kehrte dann zu ihrem neuen Pfer zurück. Wie sollte sie es eigentlich nennen? Ihr fiel kein passender Name ein. Sturer Bock? Raser? Stampfer? Nachtschatten? Sternweiß? Sie überlegte noch eine Weile hin und her, dann beschloss sie, das auf ein andermal zu verschieben. Vielleicht fiel ja auch einem der anderen Gefährten ein passender Name ein.
Sie hörte hinter sich Schritte näher kommen, und als sie sich umdrehte, sah sie Heras in ihre Richtung gehen. Er musste den anderen zuerst in den Wald gefolgt sein, um nun wieder zurückzukehren. Sie fragte sich, was er dort wohl gesucht haben mochte. Er blieb vor ihr stehen und betrachtete sie. Ihr fiel auf die Schnelle nichts ein und so fragte sie nur: "Na?" "Ihr tragt Männerkleidung", antwortete Heras, nachdem er zum Gruß den Kopf geneigt hatte. "Ich weiß." "Warum?" "Ich hab sie gefunden." "Und deshalb tragt ihr sie nun?" "Die anderen duzen mich alle - das können wir denke ich auch tun." "Euch duzen?" "Nein, ich meine, uns gegenseitig duzen. Spricht doch nix dagegen?" "Achso. Das meint - meinst du. In Ordnung, mir soll es recht sein." "Schön." Zohani lächelte aufmunternd. Dann fiel ihr Heras' Frage wieder ein. "Die Kleidung trage ich, weil mich die zerstörte Rüstung nur gestört hat. Jetzt kann ich mich wenigstens besser bewegen, und ich bekomme auch keine Quetschungen von eingedellten Rüstungsteilen mehr." "Das hört sich logisch und nachvollziehbar an." Mit einem Blick auf ihren neuen Waffengurt fügte er hinzu: "Ich schätze, du hast die Kleidung zusammen mit diesen neuen Waffen gefunden." "Richtig. In den Satteltaschen von dem Reittier, das ich mir herausgesucht habe." Sie deutete über ihre Schulter auf den schwarzen Hengst. "Weshalb ich gekommen bin", sagte Heras plötzlich, und erinnerte Zohani damit daran, dass er mit einem Grund zu ihr gekommen sein musste, "Ich muss dich etwas fragen." Er schien sich noch ein wenig daran gewöhnen zu müssen, sie zu duzen, aber Zohani war damit einverstanden. "Was gibts denn?" "Es geht um unsere besvorstehende Reise. Falls wir weiterhin alle zusammen bleiben." Er erzählte ihr von seinem Reiseziel und warum er sich dort, zusammen mit den anderen, hinbegeben wollte. "Nun muss ich Eu- dich fragen, ob du mitkommen wirst.", endete er und blickte sie einfach nur abwartend an.
Sie überlegte kurz. Sie wusste nicht, wo sie als nächstes hätte hingehen können. Mit der Gruppe zu reisen, schien ihr am sichersten. Und sie hatte sowieso gerade erst beschlossen, nicht auf eigene Faust loszuziehen. Sie nickte. "Ich sehe in dieser Reise kein Problem. Ich komme gerne mit, schließlich begleiten dich ja auch Ryu und Rhianon, und daher denke ich, dass auch die meisten der anderen sich damit einverstanden erklären werden, mitzukommen." Heras nickte dankbar und verbeugte sich dann. "Danke für deine Aufmerksamkeit." Nachdem er sich fortbewegt hatte, dachte Zohani noch ein wenig über ihr Gespräch nach. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich mit dem Wiedergänger am besten unterhalten sollte, zumindest konnte sie es nicht so tun, wie sie es gewohnt war. Vielleicht musste sie sich auch einfach noch an seine Gesellschaft gewöhnen.
Dann überlegte sie, was sie als nächstes tun sollte. Sie beschloss, ein wenig den Dorfbewohnern bei ihren Bemühungen zu helfen, den Platz wieder in Schuss zu bringen. Sie hatte schließlich sonst nichts zu tun, und auch wenn sie ganze gerne tat was sie wollte, schien es ihr unnmoralisch, einfach danebenzusitzen und nichts zu tun. Auch wenn sie hofte, dass sich die Stadt irgendwie noch von diesem Angriff erholen würde, wenn es auch unzählige Jahre dauern mochte, freute sie sich schon, bald wieder durch die Wälder zu ziehen. Sie hoffte, dass ihre neuen Gefährten im Wald bald mit dem Sammeln und Jagen fertig sein würden, damit sie weiterziehen konnten. Außerdem war sie schon sehr auf die Reise der Gefährten zusammen mit Heras gespannt.