Die Sonne war gerade hinter dem Horizont aufgegangen, und mit ihrem Licht hauchte sie den morgendlichen Himmel in Purpur und Rot, und silberne Wolken komplettierten das Schauspiel. In den Wäldern legten sich die Geschöpfe der Nacht zur Ruhe, während die ersten Tagjäger ihren Streifzug begannen. Einige Vögel zogen am Himmel entlang und stießen ihre Schreie aus. Doch all das kümmerte den schwarzen Wanderer nicht, der sich unbeirrt seinen Weg durch den Matsch des Feldweges bahnte.
Heras war nun eine Woche, vielleicht sogar noch länger, ohne jede Rast unterwegs, seitdem er den Ort verlassen hatte. Mit dem gleichen lautlosen Schritt, wie er nur gut ausgebildeten Assassinen zu eigen ist, wanderte er durch das Dickicht, die Geräusche seiner Umgebung wahrnehmend und bereit, jederzeit zuzuschlagen, wenn es erforderlich wäre. Seit seiner Wiedererweckung war dieser Instinkt tief in ihm verwurzelt.
Hinter ihm raschelte ein Busch, aber Heras wusste bereits, es war nur eine Ratte, die sich an ihm vorbeizuschleichen versuchte. Über ihm knarrte der Zweig eines alten Baums, aber Heras wusste bereits, es war nur ein kleiner Raubvogel auf Beutefang, der sich eben jene Ratte als Frühstück ausgesucht hatte. In der Ferne tönte ein Geräusch, ähnlich dem Heulen eines Wolfes, doch Heras wusste, derjenige, der ihn ausstieß, war zuweit weg, um gefährlich zu sein. Er setzte also seinen Weg fort.
Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit, was nicht alltäglich war: Der Duft von Rauch, Feuer und Asche. Er blieb stehen und duckte sich, wie als legte er sich einem Opfer auf die Lauer. Seine Nasenflügel zuckten, und er wendete mehrmals den Kopf, um herauszufinden, woher der Geruch kam. Es dauerte eine Weile, aber schließlich stellte er fest, dass der Rauch aus dem Tal westlich des Waldes kam. Er änderte seine Bewegungsrichtung und schritt noch leiser und bedächtiger durch die Pflanzenwelt als zuvor.
Schließlich erreichte er einen Hang, hinter dem die Pflanzenwelt dünner wurde, und er sah in der Ferne einige Ruinen, zwischen denen noch einzelne Flammen aufstiegen. Heras betrachtete die zerstörte Stadt eine Weile und versuchte ihre Lage und ihren Anblick mit seinem Wissen über diese Region abzugleichen. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass es sich um die Ruinenstadt um Scho Kolad handeln musste, noch vor kurzer Zeit eine blühende kleine Stadt an einem wichtigen Kreuzungspunkt der Handelsstraßen. Er machte sich keine Gedanken darüber, was mit den Einwohnern geschehen war, denn für ihn stand bereits fest, dass sie tot waren. Allerdings interessierte es ihn, warum ausgerechnet dieser Stadt ein derartiges Unglück widerfahren war. Also rutschte er den Hang hinunter, und während er sich langsam der Stadt näherte, wurde der Geruch von Asche und Rauch immer stärker, so stark, dass er manch einem Menschen Tränen in die Augen getrieben hätte.
"Die Flammen, sie wüteten und töteten, die Sterblichen, sie kreischten und verstummten." sagte er zu sich selbst, als er schließlich durch die Straßen des Ostviertels schritt und auf mehrere verkohlte Leichen am Wegesrand stieß. Aus der Ferne war ein Stöhnen zu hören, und in der Nähe rollten einige zerbrochene Pflastersteine die zerstörte Straße entlang. Instinktiv legte Heras eine Hand an den Griff des verborgenen Kurzschwertes. Er wusste, überlebende Menschen hatten einen Hang dazu, die erstbesten Fremden anzugreifen, die sie erblickten, weil sie sie auf ihre emotionale Weise automatisch für ihr Leid verantwortlich machten. "Leid und Unwissenheit, eine gefährliche Kombination. Des Sterblichen Seele ist ein unbegreiflich Phänomen." murmelte er.
Hinter ihm stöhnte nun ebenfalls ein noch nicht verstorbener Mensch auf. Er drehte sich um, vielleicht konnte er von dem Sterblichen in Erfahrung bringen, welche Katastrophe Scho Kolad heimgesucht hatte. Er näherte sich dem stöhnenden Körper und besah die schweren Brandwunden und Stichverletzungen. Er drehte den Mann zur Seite, damit er ihm besser ins Gesicht blicken konnte, und sah, dass jemand oder etwas ihm beide Augen ausgestochen hatte. "In flammendem Licht erblindet das stärkste Auge. Es vermag fortan nur Dunkelheit zu sehen." sagte er leise und versuchte, mit dem Halbtoten zu sprechen. "Sterblicher, sprich schnell, welch Macht richtete dies an?" Doch der Mann stöhnte nur noch mal auf, um im nächsten Augenblick einen Schwall dunkelroten Blutes auszuspeien und schließlich tot zusammenzusinken. "Typisch für die Sterblichen. Immer, wenn man sie etwas fragt, wenden sie sich ab, beantworten die Frage mit noch einer Frage oder sterben sie im nächsten Augenblick." sagte er zynisch und schüttelte den Kopf.
Schließlich stand Heras auf. Er ballte den Griff um sein Kurzschwert enger. Etwas war in der Nähe, oder besser, jemand. Ein Überlebender, der noch so viel Körperkraft besaß, um auf Fremde losgehen zu können. Er schlich sich um die Häuserwände herum, um heimlich möglichst nah an den Widergänger heranzukommen. Heras spielte sein Spiel mit, bis der Mensch schließlich direkt hinter dem Wiedergänger stand und mit einem lauten Kampfschrei auf ihn eindrang. Der Untote war schneller. Er drehte sich um, die kurze Klinge in der rechten Hand, packte mit der linken, schwarz behandschuhten Pranke den Mann am Hals und stieß ihn an die Wand. "Törichter Lebender. Warum sollte ich eine Gefahr sein wollen, wo eine andere Macht bereits solche Zerstörung bewirkt hat?" fragte er den keuchenden Mann, der zitternd und in die Ecke gedrängt seine Waffe, eine altertümliche Kurzklinge, fallen ließ. Heras löste den Griff, nachdem er dem Mann durch seinen Gesichtsausdruck bedeutet hatte, ja nichts Falsches zu unternehmen. "Sprich, Sterblicher, was geschah hier?" fragte er ihn, mit der für ihn üblichen tiefen Stimme. Der Mann brauchte eine Weile, bevor er sich soweit gefasst hatte, um den Mut zu finden, der grauen Gestalt zu antworten.
"Ich... ich ... ich weiß nicht. Plötzlich brach in der Stadt ..." der Mann schluckte. Er war sichtlich verängstigt von Heras' Habitus, und Heras wusste das. "...plötzlich war da ein Feuer... wir versuchten es zu löschen... es ging nicht ... es brannte fort und fort ... die Stadt ist völlig zerstört..." Winselnd sank der Mann in sich zusammen. Hätte Heras noch die Fähigkeit dazu gehabt, hätte er vielleicht Mitleid mit der armen Seele gehabt, doch er packte den Mann nur am Kragen, zog ihn sanft, aber bestimmt und nur mit soviel Kraft, wie nötig, hoch, und flüsterte ihm: "Geh fort, Sterblicher. Nimm deinen Besitz und fliehe. Dieser Ort bringt nur noch den Tod." Dann ließ der graue Wiedergänger den Mann stehen und verschwand in einer der Gassen...