"Wo bin ich hier? Und wie komme ich hierher? Wer bin ich..." Der Wald gab ihr keine Antwort darauf. Sie wusste nur, dass sie nicht hierher gehörte, und ihre Instinkte sagten ihr, das jemand ihr folgte. Sie lief ziellos durch die ihr fremdartig erscheinende Umgebung. Sie schien ihr so verschachtelt und unlogisch, es war viel zu wenig Platz. Irgendwo in ihrem Gedächtnis regte sich eine Erinnerung... ein einzelnes Bild: Endlose Weiten aus Sand und Dünen und Wind. Und mit ihm tauchte ein einzelnes Wort aus dem Tümpel ihrer Vergangenheit auf. "Amra..." Es war ein Begriff aus der Sprache, die sie einst beherrschte. Es bedeutete "Wüste"... und viel mehr als das. Es stand für ihre Heimat, für alles, was sie vergessen hatte. "Land aus Sand, Volk des Himmels..." Es war das einzige, woran sie sich erinnern konnte.
Dornenranken zerkratzten ihre Arme und Beine. Ihre langen Flügel hinderten sie bloss, da sie sich immer wieder im Unterholz verfingen. Zum fliegen schienen sie nicht zu taugen... sie hatte es versucht. Mehrere Male. Sie schien die Kraft dazu nicht aufbringen zu können... irgendetwas nagte an ihrem Innern und raubte ihr die Energie. Irgendetwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.
Einmal glaubte sie Flügel schlagen zu hören... wie die eines grossen Vogels, aber doch ganz anders. Es klang unnatürlich. Instinktiv versteckte sie sich im Gebüsch, und einen Augenblick lang erblickte sie eine dunkle Silouette am Himmel.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder hervorwagte, obwohl der Schatten nicht wiedergekommen war. Sie sah sich hektisch um, und wusste nicht, wohin sie als nächstes laufen sollte. Sie hatte keine Ahnung, aus welcher sie gekommen war... wahrscheinlich lief sie schon eine ganze Weile im Kreis. Sie war völlig erledigt, und sie hatte sich hoffnungslos verlaufen.
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Die Gefährten fanden sie am Rande einer Lichtung, wo sie sich wie eine Katze zusammengerollt hatte. Ryu hatte nicht lange gebraucht, um sie aufzuspüren, und offenbar hatte Char'rat weniger Erfolg gehabt.
Als Hanfi sich ihr näherte, schreckte sie auf und sah sich panisch um. Sie schien weglaufen zu wollen, doch die Gruppe hatte schnell einen weiten Kreis um sie gebildet.
Überrascht betrachteten die anderen dieses fremdartige Wesen. Soetwas hatte keiner von ihnen je gesehen, sie schien nicht von dieser Welt zu stammen. Die Flügel waren, wie Philippe erzählt hatte, die eines Engels, doch der rest ihrer Erscheinung erinnerte eher an ein ganz normales Mädchen... bis auf die Ohren und gewisse Gesichtszüge. Sie hatte die Ausstrahlung einer Katze... einer sehr nervösen Katze.
Sie war in einer fürchterlichen Verfassung: die Haut überall zerkratzt und aufgeschürft, die Flügel an einigen Stellen arg zerfetzt, die Kleidung, die über und über mit fremdartigen Symbolen bedeckt war, grösstenteils zerrissen.
"Ähm... hi." Hanfi versuchte, beruhigend auf das Mädchen einzureden, während sie sich ihr weiter näherte. Weiter als ein paar Schritte kam sie nicht: Blitzschnell duckte sich diese und verpasste der Dunkelelfe ein paar saftige Kratzer über die Unterärme. Offenbar hatte sie nicht nur die Ohren einer Katze geerbt. Sprungbereit kauerte sie sich in die Mitte des Kreises und fauchte die Gefährten wütend an.
Mit einem überraschten Aufschrei entfernte sich Hanfi rasch ausser Reichweite und hielt sich den leicht blutenden Arm.
"Das arme Ding ist ja völlig verstört", meinte Gundula.
Ryu wurde das ganze allmählich zu bunt, und mit einer leichten Berührung an der Stirne schickte er die Fremde in einen tiefen Schlaf.
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Als sie erwachte, war es Morgen geworden und die Sonne schien hell. Sie fühlte sich ausgeruht und ruhig, und es dauerte einen Augenblick, bis die Ereignisse vom Vorabend ihr wieder einfielen. Sie setzte sich zögerlich auf und erblickte neben sich einen Jungen. Sie erinnerte sich dunkel, ihn gestern im Wald schonmal gesehen zu haben, auf der anderen Seite des Sees. Jemand hatte sich um ihre Verletzungen gekümmert, die meisten kleineren Kratzer waren schon gar nicht mehr zu sehen.
Philippe stellte sich kurz vor und bat sie, kurz zu warten, während er die anderen holte.
Sie hüllte sich schützend in ihre Flügel ein, und wartete. Es dauerte nicht lange, da versammelten sich die Gefährten erneut um sie und begannen, wild durcheinander zu reden.
"Wer bist du?", fragte Hanfi endlich. "Und woher kommst du?"
Die Fremde war noch immer sehr nervös und sehr abweisend. "Ich... ich weiss es nicht. Ich kann mich nicht erinnern..." Sie konzentrierte sich eine Weile, ohne Erfolg. Schliesslich seufzte sie traurig, dann sprach sie ein einzelnes Wort: "Amra..."
"Amra? Ist das dein Name?" - "Nein. Es bedeutet... Wüste in eurer Sprache. Es ist das einzige Wort, an das ich mich noch erinnere... es steht für meine Heimat." Bei diesen Worten legte sich ein Schatten über ihr Gesicht, und in ihren Augen loderte schwer erfassbare Sehnsucht und Schmerz auf.
Sie hörte nicht hin, als Hanfi ihr erklärte, dass die Gruppe sie von nun weg Amra nennen würde.
"Lasst mich in Ruhe! Wer seid ihr eigentlich, und was wollt ihr von mir? Wo bin ich? Ich weiss nicht, wie ich hierhergekommen bin, und ich kann mich an nichts erinnern... Weshalb sollte ich euch trauen?"