Morachin nahm sich einen Moment Zeit, bevor er Jadomins Frage nach den Splittern beantwortete. Er streckte die freie Hand aus, als wolle er damit etwas entgegennehmen. Lange blieb sie nicht leer: Kleine Lichter in allen möglichen und einigen unmöglichen Farben sammelten sich zu etwas, das wie eine mit Obst gefüllte Schale aussah - und dann auch zu einer wurde. "Zuerst etwas, um den Hunger zu stillen", sagte der Schnitter dazu, machte jedoch keine Anstalten, sich selbst aus der Schale zu bedienen, die er auf einem kleinen Jadetisch abstellte.
"Bitte, nehmt Platz und genießt das Obst. Die ganzen Erklärungen könnten etwas dauern." "Ist... es denn in Ordnung, hier in der Bibliothek zu essen?", erkundigte sich Ryan. "Es ist zwar niemand da..." "Oh, es ist durchaus jemand da! Sie sind nur nicht ganz so fest in der Realität verankert." "Wie meinen?" "Die Architekten Xanochas waren nicht gewillt, die Schönheit des umliegenden Dschungels für ihre Stadt zu zerstören, weshalb das Gefüge der Realität in dieser Gegend soweit verkrümmt wurde, um eine ganze Stadt auf der Fläche eines kleinen Dorfes unterzubringen. Ihr werdet bemerkt haben, dass ständig Gebäude aufgetaucht und verschwunden sind." "Ist das nicht etwas unpraktisch?" "Kaum. Wenn man weiß, wohin man will, findet man immer den Weg."
Ryan sah den Schnitter zweifelnd an und griff sich einen Pfirsich aus der Obstschale. Einen Moment lang sah er die Frucht an, als fragte er sich, ob sie giftig sei, doch dann biss er herzhaft hinein. Nachdem er geschluckt hatte, fragte er weiter: "Und wie habt ihr das mit dem Obst gemacht?" "Alle wahren Menschen können ihren Willen mithilfe des Residualfeldes des Stadtturmes verwirklichen, solange sie die magische Energie, die sie verbrauchen, durch ihre eigenen, natürlichen Reserven ersetzen. Es ermöglicht es, eine ganze Reihe einfacher Zauber für den täglichen Gebrauch zu wirken, ohne auch nur die Anfänger einer magischen Ausbildung zu besitzen." "Residualfeld... Natürliche Reserven? Ohne euch zu nahe treten zu wollen, aber ihr werft mehr Fragen auf, als ihr beantwortet."
Morachin schwieg dazu und überlegte einen Moment. "Tja, da ist viel Exposition nötig..." "Unbedingt!", kam die Zustimmung auf der Stelle.
"Das Obst ist ja ganz lecker, aber... Ihr habt uns so manche Lüge aufgetischt, ihr bringt uns in eine Stadt, wo man uns wahrscheinlich auf der Stelle den Kopf abschlägt, wenn wir ohne eure Begleitung irgendwo auftauchen und es geschieht einfach so unglaublich viel hier, das... Ich weiß gar nicht, wo ich mit den Fragen anfangen soll." "Mir geht es mit den Erklärungen nicht anders." "Fangt mit dem Anfang an. Neueren Datums ist dieses Xanocha ja wohl nicht gerade."
"In der Tat, sehr gut beobachtet. Blicken wir in die Vergangenheit zurück..."
Vor dem Blick genehmigte Morachin sich jedoch etwas dringend Nötiges, geradezu Unverzichtbares: M'jin. Ein paar der süßen Klöße und der Schnitter fühlte sich bereit. Er ließ sich auf einer Steinbank nieder, legt die Sense zur Seite. "Also dann, eine Geschichtsstunde! Fünf..." "Bringt ihr euch nicht in Schwierigkeiten, wenn ihr uns alles so frei erzählt?", wollte Jadomin wissen. "Wenn ich das richtig verstehe, weiht ihr uns in die Geheimnisse eines Volkes ein, dass von Fremden nicht wirklich viel hält. Und wir werden doch sicherlich beobachtet, auf irgendeine magische Weise?" "Eigentlich nicht. Die Covende rechnen nicht mit Verrat, von niemandem. Normalerweise hätten sie auch guten Grund dazu, es wäre in keinster Weise naiv. Wo war ich?" "Bei 'Vor', mit drei Punkten dahinter." "Danke. Fünf..."
"... zehntausend Jahre vor dem Mandatsverlust, mit dem die Geschichtsschreibung der meisten Länder des Zentralkontinents beginnt, befand sich das Großreich in seiner Blütezeit..." "Welches Großreich? Meint ihr dass der Bernsteinelfen aus Delnara, oder..." "Es hatte keinen anderen Namen und sollte auch nie einen Namen haben, denn seine Herrscher gedachten, ihm früher oder später alles auf dieser Welt einzuverleiben. Jene Herrscher waren die Covende und seine Bewohner, das heißt, jene, die frei waren, nannte man Menschen." "Halt! So lange vor dem Mandatsverlust hatte eure Spezies noch keine nennenswerten Reiche gegründet, geschweige denn Magie erlangt, wie es sie hier gibt", wandte Jadomin ein. "Dieses Reich ist die eine große Lücke, die alle Geschichtsbücher gemein haben", gab Morachin trocken zurück. "Was selbst die ältesten unter den Elfen nicht mehr wissen, ist, dass sie nicht allein das erste Volk auf dieser Welt waren. Wir erblickten das Licht der Sonne gleichzeitig mit euch, wenn nicht sogar vorher. Wir hatten ebenso lange Zeit, uns zu entwickeln, doch überstanden wir die Kataklysmen, die das goldene Zeitalter von damals beendeten, längst nicht so unbeschadet."
Der Elf wirkte skeptisch, ließ den anderen jedoch vorerst weiter ausführen. "Das Großreich nahm seinen Anfang im eisigen Westen des Zentralkontinents und breitete sich von dort aus. Auf Kriege und andere Ereignisse, die Teil seines Wachstums waren, möchte ich jetzt nicht eingehen, sie sind nicht wirklich wichtig. Was wichtig ist, das ist die dem Großreich innewohnende Magie. Alle wahren Menschen besitzen die Gabe und das in nicht geringem Ausmaße. Es war also nur natürlich, dass Expansion und Fortschritt des Großreichs auf der großzügigen Nutzung magischer Kräfte aufbauten. Den Gipfel dieser Kunst schließlich stellten die Splitter dar."
"Splitter wovon?", wollte Ryan nun wissen, nachdem so lange niemand gefragt hatte. "Irgendeiner gewaltigen Urkraft. Das Wissen darum hat den Fall des Großreichs nicht überlebt und das ist auch besser so. Das Material, aus dem die Splitter bestehen, kerkert diese Kraft ein. Die Covende, die mächtigen Lichs, die das Großreich beherrschten, errichteten Türme mit Vorrichtungen, die es erlaubten, die gewaltige Macht, die in den Splittern eingeschlossen war, nutzbar zu machen. Jede größere Stadt hatte einen solchen Turm und Splitter. Sie verliehen nahezu uneingeschränkte Macht soweit ihr Einfluss reichte.
Es ist bezeichnend, dass alle Versuche, eroberte Gebiete zurückzuerlangen, sofort aufgegeben wurden, sobald die Covende dort einen der Türme bauten. Zu dem Zeitpunkt, den ich anfangs nannte, beherrschte das Großreich fast den gesamten Zentralkontinent sowie weite Teile Jintais. Niemand sonst wusste, wie man die Splitter herstellen konnte und sie gewährten absolute Überlegenheit."
"Warum fiel das Großreich dann?", fragte Ryan weiter. "Nun, wenn man solche Macht in Händen hält, ist der logische nächste Schritt, die Götter selbst herauszufordern." Das ließ alle, die dazu fähig waren, nach Luft schnappen. "Logisch...? Diese Covende mussten wahnsinnig gewesen sein!" "Ihre Macht stieg ihnen zu Kopfe, wenn ihr so wollt. Hybris ist eine bezeichnende Krankheit weitreichender Imperien. Aber, obwohl die Covende völlig einseitige Kriege geführt hatten und man von diesem erwarten würde, einmal von der anderen Seite völlig dominiert zu werden, verlief das Geschehen... ausgeglichen. Für jeden Turm, der fiel, verlor das Pantheon ein Mitglied. Den Vorteil der Splitter konnte man den Covende nicht nehmen. Selbst, als ihre Erschaffung in der Vergangenheit verhindert wurde, verschwanden sie nicht aus der Gegenwart des Krieges, der so noch lange währen sollte. Es wird wohl sehr chaotisch gewesen sein. Auf der einen Seite Engel, Dämonen und Equilibri, die Seite an Seite kämpften, auf der anderen Seite die Covende und Horden von dai'Amari, die das Land schwarz färbten.
Der Krieg dauerte lange Zeit an, ohne dass eine Seite einem Endsieg auch nur nahe kam. Er sollte sein Ende finden, als die Covende das Sanctum Sanguinis schufen. Es war ein neuer Turm, ein besonderer, einer, der mächtiger als jeder andere sein sollte. Man hatte nie versucht, Türme zu errichten, die aus mehr als einem Splitter gleichzeitig Kraft zogen, aus Furcht, man verliere die Kontrolle und das Sanctum benötigte gleich drei, um eingesetzt werden zu können. Das war dann das Ende des Krieges. Man baute das Sanctum Sanguinis, setzte drei Splitter ein, aktivierte sie und... Na ja."
"Na ja?" "Sagen wir, es war verheerend. Zum einen starben viele Götter auf der Stelle. Zum anderen verlor der Zentralkontinent einen beträchtlichen Teil seiner Landmasse im Westen, wo noch immer das Herz des Großreichs lag. Einige jüngere Spezies wurden so vollständig aus der Geschichte getilgt, als hätte es sie nie gegeben. Die Welt und sogar einige benachbarte Rang um den Fortbestand ihrer Existenz selbst. Das Sanctum Sanguinis konnte einfach nicht beherrscht werden und auf dem Gipfel der Arroganz hatten die Covende geglaubt, es dennoch tun zu können.
Der Großteil der Ereignisse ist offensichtlich in völlige Vergessenheit geraten. Das Großreich war gefallen und die Überlebenden mischten sich im Laufe der düsteren Jahrhunderte danach, wo die Günstlinge der Götter frei umherstreiften und einmal mehr die Privatfehden ihrer Herren ausfochten, unter die anderen Rassen. Diese Menschen vermengten ihr Blut mit dem von Fremdkindern. Es wurde dünn und verlor nach und nach sein magisches Potenzial."
Auf Ryans Gesicht leuchtete Verständnis auf. Deshalb also "Dünnblüter"...
"Wie Xanocha zeigt, bestanden einige Bruchstücke des Großreichs fort - verkümmert. Der Turm von Xanocha steht nicht mehr und die heutigen Covende wissen nicht, wie sie ihn neu auferstehen lassen können. Die Magie der Stadt beruht darauf, Reste seiner Macht anzuzapfen. Sie sollten jetzt wohl nur noch für einige Jahre reichen."
"Diese Covende werden schwerlich mit dem Stand der Dinge zufrieden sein", bemerkte Jadomin. "In der Tat! Der Großteil der Splitter ist zwar verschollen, doch drei sind bekannt. Und das Sanctum Sanguinis steht noch immer in den Ruinen von Zarlachneras, der damaligen Hauptstadt des Großreichs..." "Was wollt ihr damit andeuten? Haben diese komischen Lichs denn nichts gelernt?" "Obwohl sie heute weder Türme noch Splitter schaffen können, haben sie das Verfahren, um die Kraft aus einem Splitter zu ziehen, verfeinert. Ob das ausreicht, um das Sanctum sicher benutzen zu können, kann ich nicht sagen." "Warum wird um die Splitter gekämpft?" "Es haben sich Fraktionen innerhalb der Covende gebildet, mit unterschiedlichen Vorstellungen davon, was mit dem Sanctum zu tun ist. Eine nennt sich die Dominanz. Sie treten dafür ein, die Welt von allen Fremdkindern und Dünnblütern zu säubern und die Götter sozusagen auszusperren, vielleicht sogar endgültig zu vernichten. Eine andere ist die Eroberung. Sie sind nur ein wenig gemäßigter, denn sie beabsichtigen, das gesamte alte Herrschaftsgebiet des Großreichs wieder in ihren Besitz zu bringen und, nun, die Götter auszusperren. Zuletzt wäre da der Schutz. Sie haben erkannt, dass die Zeit der wahren Menschen vorüber ist und nie mehr kommen wird, doch möchten sie immer noch Rache an den Göttern nehmen. Jede Gruppe hatte ursprünglich einen Splitter. Ich habe dem Schutz, der Xanocha regiert, die der anderen Fraktionen gegeben und werde sie, zusammen mit dem dritten, wieder stehlen."
"Ich glaube, das ist alles etwas zu groß für uns...", meinte Ryan kleinlaut. "Habt ihr denn gar keine Loyalität in euch?", tadelte Jadomin den Schnitter. Nicht, dass der Elf, nachdem er das alles nun wusste, diese Splitter in den Händen der Covende sehen wollte, doch hielt er auch nichts von Treulosigkeit. "Normalerweise hätte ich die schon. Kein dai'Amari kann sich einem der Covende widersetzen, unsere Geister können sie beliebig formen. Wenn wir mit ihren Plänen unzufrieden sind, müssen wir sie dennoch unterstützen. Und da die meisten von uns ohnehin völlig ergeben sind... Doch wie der Zufall es so will, habe ich einen... Gönner, der gegen die Covende arbeitet." "Was für einen Gönner?" "Einen Gönner eben. Er ist es, dem ich treu diene. Er hat nur wenige Untergebene und keine Verbündeten, doch besitzt er Kenntnisse, die den Covende fehlen. Unter anderem kann er die Bande, die einen dai'Amari zum Sklaven machen, brechen und die Gabe der Aurafälschung gewähren." "Und das ist nun...?" "Jeder dai'Amari hat eine Aura, die kennzeichnet, welcher Fraktion er angehört. Mein Gönner lehrte mich, meine Aura zu verändern, um mich als dai'Amari jeder beliebigen Fraktion auszugeben. Die Aura und die Sklavenbande gelten als perfekt und sie wären es auch, denn nicht einmal die Covende können einem ihrer Diener eine falsche Aura geben oder die ihrer Feinde in ihren Dienst zwingen. Doch glücklicherweise haben gewisse magische Gesetze für meinen Gönner keine Geltung."
"So, so", meinte Jadomin nur dazu. "Wie gedenkt ihr, die Splitter zu stehlen?" "In den nächsten Tagen wird es eine Zeremonie geben, um die Vervollständigung der Splittertriade zu feiern. Außerdem werden sie bei der Gelegenheit mit Zaubern belegt, die angeblich die gefahrlose Nutzung des Sanctum Sanguinis ermöglichen. Alles, was dann noch bleibt, ist, die Splitter nach Zarlachneras zu bringen. Sollten die Eroberung und die Dominanz inzwischen wissen, dass nicht nur ihr Splitter verschwunden ist, sondern auch der der anderen Fraktion, werden sie wissen, dass der Schutz eine gesicherte Triade hat und entweder versuchen, die Splitter abzufangen oder in den Ruinen ein letztes Gefecht vorzubereiten." "Was ist mit einem Angriff auf Xanocha?", wollte Jadomin wissen. "Unwahrscheinlich. Auf ihrem eigenen Gebiet ist jede Fraktion praktisch unverwundbar." "Wie soll dann der Diebstahl gelingen?" Der Platz, auf dem die Weihe der Splitter erfolgen wird, bedarf der Vorbereitungen. Niemand wird es seltsam finden, wenn ich darum bitte, helfen zu dürfen. Bei der Gelegenheit treffe ich meine eigenen Vorbereitungen für eine Ablenkung während der Zeremonie. Etwas Rauch würde bereits reichen - wer so sehr an ausgefeilte Magie gewöhnt ist, rechnet nicht mit billigen Tricks. Um so wirkungsvoller sind besagte Tricks."
"Uhm..." Es war das erste Mal, dass Emmaline sich rührte. "Ich muss das Ganze noch verarbeiten, aber... Es hat wirklich niemand gelauscht?" "Ich sehe hier keinen Ring aus meinen Brüdern und Schwestern, die uns sehr verärgert ansehen. Und glaubt mir, die Covende würden sich nicht mit Verwirrspielen aufhalten."
Während Morachin seine Gefährten mit dem Schicksal der Welt überraschte, wurde Ayura von den beiden dai'Amari neugierig beäugt. "Ein Fremdkind." "Eindeutig." "Sie sieht aus wie ein Dünnblüter." "Das sollte uns nicht täuschen." "Nein. Denn sie ist immer noch ein Fremdkind." "Die Augen der Covende haben sie erspäht." "Niemand betritt Xanocha, ohne dass die Covende davon hören." "Es sehen, meinst du." "Ich bin sicher, sie hören auch." "Dann wäre sie von den Ohren der Covende erspäht worden, nicht von den Augen." "Von beidem gleichzeitig?" "Einverstanden. Also..."
Sie beugten sich zu Ayura herunter. "Hm..." "Ebenfalls hm." "Ist sie noch immer ein Fremdkind?" "Ich glaube schon." "Was sollen wir jetzt mit dir machen, Fremdkind?", wandte der eine sich direkt an Ayura. Die Stimme war derart weich und das Gesicht so androgyn, dass er nicht als Mann oder Frau zu erkennen war, die weite Robe tat ihr Übriges dazu. "Die Frage muss lauten: Wie können wir dir helfen, Fremdkind?" "Ihr helfen? Also, Fremdkinder gehören eigentlich nicht nach Xanocha. Wir müssen etwas mit ihr machen." "Etwas mit ihr machen, so, so." "Ebenfalls so, so." "Ja. So, so. Erlöse uns von unserem Leid und sag uns, ob wir dir helfen oder etwas mit dir machen sollen." "Die Covende machen bestimmt etwas mit ihr, gepriesen seien sie!" "Gepriesen! Das heißt nicht, dass wir ihr nun vorläufig helfen sollen." "Darum hast du sie gebeten, uns von unserem Leid zu erlösen." "Sie kann es bestimmt. Denn..."
Sie beugten sich noch näher und sprachen diesmal gleichzeitig, in einem Ton, der längst nicht mehr so scherzhaft war wie bisher. "... du denkst und handelst nicht wie das Kind, das du zu sein scheinst, richtig?"