Anise blickte zum Himmel. Die Nacht war klar und die Sterne standen wie Leuchtfeuer, zwar weit entfernt, doch durch ihr Licht dennoch klar erkennbar, am Himmel und wiesen Anise für gewöhnlich eindeutig die Richtung, in die sie gehen musste. Doch in der Einladung zu dem Treffen der Societas stand lediglich eine Beschreibung, wie sie vom Stadttor aus zu der Ruine kam, in der die Zusammenkunft stattfinden sollte. Die junge Frau hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich frei in der Stadt bewegen zu können, sie wusste also nicht, wie sich der Weg zur Ruine änderte, wenn sie die Stadt über die Slums verließ.
Sie drehte sich zu ihrem bisherigen Führer um. »Verzeiht, wenn ich Eure Dienste ein weiteres Mal strapazieren muss«, begann sie. »Doch ich habe eine weitere Frage. Es soll unweit von der Stadt entfernt eine Ruine geben. Ein abgebranntes Herrenhaus, wenn ich mich nicht Irre, das einst der Familie von Lichtlingen gehörte. Könnt Ihr mich – selbstverständlich gegen Bezahlung – dort hin führen?«
Einen kurzen Augenblick reagierte Andreas nicht. Dann neigte er kaum merklich den kopf und rauschte mit einem leisen »Folgt mir!« die Straße entlang. Anise korrigierte die Position ihrer Kapuze, die im unterirdischen gang etwas verrutscht war, und folgte ihm zügig.
Er führte sie durch enge, schmutzige Gassen, umsäumt von klapprigen, schäbigen Holzhütten, die vermutlich bestenfalls vor Regen zu schützten vermochten. Immer wieder gab es Ritzen in den dünnen Wänden, aus denen ein schmaler Streif des Lichts eines flackernden Feuers drang, das scheinbar mitten in den Wohnbaracken zu brennen schien. Und trotz der hohen Zahl der winzigen Hütten schien es immer noch unzählige Obdachlose zu geben. Ausgestoßene, deren Leben für niemanden einen Wert zu haben schien.
Anise sah in die entstellten Gesichter, von denen viele von der Pest geplagt wurden. Es brach ihr das Herz, so viele kranke Menschen zu sehen, von der Gesellschaft schon lange für tot befunden und vergessen. Sie war sich sicher, dass niemand ernsthaft nach einem Gegenmittel suchte und sie war sich ebenso sicher, dass es irgendwo in der Natur etwas gab, was diesen armen Seelen helfen konnte. Wenn sie doch nur genügend Zeit hätte, um selbst nach diesem Heilmittel zu suchen!
Doch das Treffen der Narratores war im Augenblick wichtiger. Sie hatte ihr Leben bereits dem Werk der Societas verschrieben und solange diese ihr nicht den Auftrag dazu gab, würde Anise wohl kaum so schnell die Gelegenheit dazu haben, eine Arznei gegen die Pest zu entwickeln.
Nur einen Augenblick später, wie es Anise schien, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, denn die kleine Prozession, bestehend aus Andreas’ Hund, der hechelnd unmittelbar vor seinem Herrn herlief, Andreas selbst und schließlich Anise, hatte die barrikadenartige Absperrung erreicht, die die Slums von dem Umland der Stadt trennte. Nacheinander durchquerten sie die Absperrung – denn als mehr konnte man das Gebilde unmöglich bezeichnen – durch eine der kleinen Lücken, die immer wieder die Linie durchbrachen.
Schweigend gingen die drei einige Augenblicke dahin. Anises Blick war zu Boden gerichtet, denn der Wind pfiff jetzt beißend in ihr Gesicht und trieb ihr die Tränen in die Augen.
Nur wenig später blieb Andreas stehen und wartete, bis Anise zu ihm aufgeschlossen hatte. »Wir sind am Ziel«, sagte er dann und deutete mit der Hand nach vorne. Die junge Frau hatte bis gerade eben nur geringfügig auf ihre Umgebung geachtet, weshalb sie jetzt etwas überrascht mit dem Blick der Richtung folgte, in die die Hand ihres Führers wies. Tatsächlich: Grau, wie alles andere im Mondlicht ragten einige Bruchteile eines einst stolzen Anwesens nur wenige hundert Meter vor ihnen in die Luft. Die meisten Menschen, die auf dem Weg in etwas Abstand zu dem verbrannten Gemäuer vorbeiliefen, würden es vermutlich einfach übersehen, denn die Natur nagte daran und hatte es längst mit einer Schicht aus ihren grünen Untertanen überzogen.
»Ich danke Euch«, meinte Anise schließlich, nachdem sie sich wieder Andreas zugewandt hatte. Sie kramte nach dem kleinen Beutel, in dem sie die Münzen aufbewahrte. Verwundert musste sie feststelle, dass die Kordel, die den Beutel für gewöhnlich geschlossen halten sollte, zur Hälfte geöffnet war. Sie zog die Öffnung komplett auf und fischte nach der Bezahlung für die erneuten Dienste ihres Führers.
Seufzend zog sie den Beutel wieder zu. »Ich fürchte, ich kann Euch hier nicht vollständig bezahlen. Wie es scheint habe ich einen Teil meines Geldes verloren. Ihr müsst Euch also entweder nur mit einer sehr spärlichen Bezahlung zufrieden geben, oder Ihr wartet dort an der Ruine auf einen … alten Bekannten, der Euch angemessen entlohnen kann.«