Amy lag, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Bett und genoss die Erinnerung an die vergangene Stunde. Lange hätte sie nicht mehr auf Entzug bleiben können, da war es umso erfreulicher gewesen, dass Kjell sich als ausgesprochen ausdauernd herausgestellt hatte.
Doch plötzlich sprang er auf und begann, sich so schnell anzuziehen, als hinge sein Leben davon ab.
„Hey, warum gehst du?“, fragte sie, als er aus dem Zimmer stolperte.
<Ich habe doch nicht irgendwas Falsches gesagt?>, fragte sie sich und zog sich rasch Korsett, Hose und Stiefel an, die aufkommenden Befürchtungen im Kopf. Sie eilte aus dem Zimmer und rannte den Gang entlang. Nichts. An einer Kreuzung blieb sie stehen und sah in alle vier Richtungen. Wieder nichts.
<Komm schon, denk nach… Wo ist es am wahrscheinlichsten, ihn zu treffen? …Am Knotenpunkt des A.I.L…. Und das ist die Eingangshalle!> Sie nahm dem Gang, der rechts von dem lag, aus dem sie gekommen war und stand nach einer Minute Rennens in der Eingangshalle. Ihr wurde schwindlig vor Schreck.
Zwei Männer trugen den offensichtlich bewusstlosen (oder vielleicht sogar toten?) Kjell. Einer von ihnen war Mark.
„Was ist mit ihm passiert?!“, schrie Amy, den Tränen nahe. Hätte sie nicht bemerken müssen, dass Kjell etwas fehlte?
„Oh, hallo Amy… So, wie es aussieht, hatte er einen Kreislaufkollaps oder sowas in der Art… Wir haben ihn gerade hier gefunden. Das da ist übrigens JC“, sagte er und deutete auf den anderen Typen, der Kjell unter den Armen fasste. Er nickte ihr zu, doch Amy war zu aufgewühlt, um es zu erwidern. Da war es auch nicht hilfreich, dass Mark ihr nicht ein einziges Mal in die Augen gesehen hatte, woraus sie schloss, dass er durch ihre Abweisung sich ziemlich mies, wenn nicht sogar gekränkt fühlen musste. Und für ihr ohnehin schon von Schuldgefühlen beladenes Gewissen war das auch nicht gerade erleichternd.
„Was tun wir denn jetzt?“ „Wir bringen ihn zu Doc Red, der flickt wirklich noch jeden zusammen“, erwiderte JC und zog Kjell weiter. Mark, der ihn am anderen Ende trug, ging stumm an Amy vorbei und starrte auf den Boden.
Sie ging nicht mit. Sie wollte gar nicht so genau wissen, wie es Kjell ging, wenn sie ehrlich war – Das würde sie nur noch mehr aufwühlen. Sie schritt in der Eingangshalle auf und ab, sehr zum Missfallen der Rezeptionsdame, der das rhythmische Geräusch der Absätze von Amys Stiefeln offenbar ziemlich auf die Nerven ging. Doch Amy kümmerte es herzlich wenig; Die Gedanken rasten in ihrem Kopf.
Um sich abzulenken, trat sie an die Anzeigetäfeln, um nach Aufträgen zu sehen und sofort stach ihr die große Meldung ins Auge, die über sämtliche Bildschirme ganz oben auf der Auftragsliste flackerte.
ANGRIFF AUF POINT 21 ERWARTET
Sämtliche fest angestellten regulären Söldnersquads des A.I.L. sowie eine Scharfschützen-Spezialeinheit werden zum Point 21 beordert, wo laut Berechnungen basierend auf den Ergebnissen der Schlacht um Goliath-ST22 eine größere Angreiferwelle einer unbekannten Organisation eintreffen wird. Die Zeit des Angriffs wird auf 5 PM geschätzt. Freiwillige Mitstreiter sind erwünscht.
<Auch das noch>, dachte Amy,
<Ein Angriff auf das A.I.L…. Ist es überhaupt noch irgendwo sicher? Wo kommen diese verdammten Androiden überhaupt her? Verdammt… Andererseits… Wieder eine Möglichkeit, den Kopf freizubekommen…> Sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. Sie würde da sein.
Nach einer unruhigen Nacht stieg Amy um 10 Uhr morgens aus dem Bett und wartete zunächst ihre Ausrüstung. Die Wurfsterne, die in einer versteckten Außentasche ihres Mantels steckten, wurden auf ihre Schärfe kontrolliert; Amy reinigte erneut die Railgun, verstaute ihre Munition (Bald würde sie wieder welche kaufen müssen) und entschloss sich, in den Trainingsräumen ein paar Testschüsse abzufeuern, schließlich war es für sie lebenswichtig, dass die Waffe funktionierte.
Die öffentlichen Trainingsräume waren eine Ansammlung von länglichen, niedrigen Hallen, deren sterile Betonwände nur von menschenförmigen Zielscheiben "geschmückt" wurden. Amy wählte eine Halle mit einer Länge von 120 Metern, in der sich nur zwei andere Scharfschützen aufhielten, und begann, die Zielscheiben in Stücke zu schießen.
Um halb Vier machte sie sich auf den Weg. Mit ihrem Speeder (an dem bereits der Waffenaufsatz montiert war) raste sie über das Eis, zum westlich gelegenen Point 21. Als die Betonmauern der Festung am Horizont aufragten, war es vier Uhr.
Das massive Stahltor öffnete sich, als sie ihre Söldner-ID an einer Konsole eingab, und sie stellte den Speeder im Innenhof ab. Ein Offizier trat an sie heran, während sie abstieg, und fragte im üblichen Militärton, jedoch nicht, ohne ihr vorher ins Dekolletee gestarrt zu haben: „Waffengattung?“
<Scharfschütze, du A****loch.> „Scharfschütze.“
„Sie werden auf Geschützturm 2 stationiert. Wegtreten!“
<Jaja.> Amy wandte sich um und machte sich auf den Weg zu der ihr zugewiesenen Position.