Irdischer Marmor
Es war fast geschafft.
Ihre Beine trugen sie schneller zu diesem Ort hin, als sie je zuvor gelaufen war. Was sie antrieb, waren keine Gedanken – es war die bloße Vorfreude auf ihr Ziel. Vor ihr lag bereits die hohe Tür, hinter der ihr größter, ihr sehnlichster Wunsch auf sie wartete. Ein angenehmes Gefühl der Vorfreude und Erwartung umschlang sie immer fester und nahm ihr durch seinen Griff beinahe den Atem. Nachdem sie alle Mühen der langen Anreise hinter sich gelassen hatte, allen ihr aufgelauerten Gefahren getrotzt und sich jeder sündhaften Versuchung erfolgreich zu erwehren gewusst hatte, bedeuteten ihre ehrfürchtigen Schritte auf den Stufen des Tempels für sie ein bisher ungekanntes Vorwärtsdringen in den lieblichen Gefilden ihres Glaubens, deren Geborgenheit sie sich unumkehrbar verschrieben hatte. Der Tempel war das Zentrum jener Gefilde, ein Ort, an dem die weltlichen und spirituellen Einflüsse des Seins in einem Punkt zusammenflossen und miteinander verschmolzen: Denn in ihm stand aufrecht und stolz, gleichzeitig aber liebevoll und vertrauenserweckend auf die Pilger hinabblickend, S
eine Statue – das Bildnis des Erschaffers, des Erbauers, des Schöpfers selbst. Dieses marmorne, prächtige Bildnis war der Grund, weshalb sie, die sie das Ende der Treppe nun schon fast erreicht hatte, den weiten Weg von zu Hause in Kauf genommen hatte. Sie war noch jung, aber ihr Glaube war bereits ihr höchstes Gut.
Mit dem Erblicken S
eines Antlitzes wollte sie sich von der Wärme, Liebe und Sündenlosigkeit S
einer vollkommenen Erhabenheit durchdringen lassen, ihren Kopf und alle unreinen Gedanken darin läutern, um letztendlich ihrem Ziel näher zu kommen: Ganz und gar im Glauben aufgehen zu können, in ihn einzutauchen und ihn in jedem Atemzug und jeder Zelle ihres Körpers spüren zu können.
Die Pforte öffnete sich langsam und würdevoll, woraufhin sie eintrat und es im ersten Moment nicht wagte, auch nur zu atmen. Ihre Augen wurden groß, der prachtvolle Mosaikboden unter ihr verwandelte sich scheinbar in Luft, sie wankte.
Seine Statue erhob sich direkt vor ihr. Hitze stieg in ihr auf. Sich niederknieend, blickte sie an dem glänzend weißen Monument empor und erwartete jeden Moment, dass
Er zu ihr herabkommen, sie mit
Seiner Wärme berühren, ihre Sünden von ihr abnehmen, ihr die Herrlichkeit
Seiner Existenz und die Richtigkeit
Seines Glaubens vor Augen führen würde.
Doch ihr stockte stattdessen der Atem.
So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nun, da sie vor
Ihm kniete, nirgendwo jene Liebe, Geborgenheit und Sündenlosigkeit entdecken, die vorzufinden sie fest überzeugt gewesen war. Nein, sie schaute vielmehr auf verborgenen Hass, vordringende Fremdartigkeit und ein verschreckendes sündenerfülltes Bild des Schöpfers. Sie konnte sich nicht erklären, was vonstatten ging. Die ehemals freundlichen, ehrfurchtgebietenden Gesichtszüge Seiner Statue gaben in ihren Augen plötzlich eine entstellte Grimasse von verabscheuungswürdiger Grausamkeit wieder; ebenso verwandelten sich die fein herausgearbeiteten Finger zu grob gemeißtelten Krallen, der aufrechte Rücken zu einem krummen Buckel und die vergoldeten Friedensinsignien, welche vom Bildnis des Schöpfers getragen wurden, zu verrosteten Mordwaffen.
Sie erhob sich schlagartig, ihren Augen noch immer nicht trauend. Sie hatte größte Mühen aufgewandt, um endlich an diesen Ort zu gelangen; doch was sie hier sah, war ein ins schreckliche Gegenteil verkehrte Abbild dessen, was ihr Glaube für eine fromme Pilgerin wie sie eigentlich hätte bereitstellen müssen. Was der Schöpfer ihr hätte erweisen müssen.
Ihre Beine trugen sie schneller von jenem Ort fort, als sie je zuvor gerannt war. Was sie antrieb, waren keine Gedanken, nicht Wut, Enttäuschung, Wahnsinn, Unglauben oder Verzweiflung – es war die Schande. Unwichtig, warum der Schöpfer ihr seine Herrlichkeit verwehrte. Er tat es, und sie war
Seiner nicht würdig, war es gar nie gewesen, wie ihr nun bewusst wurde. Der Erschaffer hatte ihr ihre eigene Unwürde aufgezeigt. Es gab nun keine Läuterung mehr, nie würde sie sich wieder ihrem Glauben hingeben können.
Sie lief zur Brücke über den reißenden Fluss. Kein Laut drang aus ihrer Kehle, während sie fiel. Sie war eine Schande, und die schöne Welt hatte es nicht verdient, auf einen solchen Schmutzfleck aufmerksam gemacht zu werden.
Das Wasser fühlte sich so kalt an wie ihre Empfindung zum Schöpfer, als es ihre Kleider durchtränkte und sie in seine auswegslose Umklammerung zog.
Die Schande ... die Unwürde ...
Des Schöpfers Statue im Tempel stand erhaben und weiß wie eh und je, ein Objekt der bedingungslosen Anbetung, welches allein die Gefilde des Glaubens zu regieren beanspruchte, und dabei seinen Gläubigen zu lehren vergaß, dass es nur aus irdischem Marmor bestand.