Kritik
Aktion vor dem Reichstagsgebäude am 18. April 2007.
Datenschützer sowie linke und liberale Parteien protestierten und stellten den Sinn einer solchen Maßnahme zur Debatte, sie weise den Weg Richtung
Überwachungsstaat: Wenn man sich nicht sicher sein könne, frei kommunizieren zu können, leide darunter die
Zivilgesellschaft, und Bürger würden vor politischen Äußerungen im Internet zurückschrecken. Anonyme Seelsorge- und Beratungsdienste seien ebenso gefährdet, da weniger Menschen es wagen würden, diese Dienste zu nutzen.
Plakative Offenlegung sensibler Informationen.
Eine Ausweitung über den „Kampf gegen den Terror“ hinaus auf minderschwere Delikte sei zu befürchten, wie etwa das Beispiel der Diskussionen um den
genetischen Fingerabdruck zuvor gezeigt habe. Die im Antrag der Regierungsfraktionen vom 7. Februar 2006 enthaltene Formulierung der Verwendung der gespeicherten Daten „zu Zwecken der Strafverfolgung auf die Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung erheblicher oder mittels Telekommunikation begangener Straftaten” scheint diese Befürchtungen zu bestätigen. Der
Deutsche Journalisten-Verband sieht die Pressefreiheit und den Informantenschutz in Gefahr, wie er in einer Mitteilung vom 22. Februar 2006 in Reaktion auf die Verabschiedung der EU-Richtlinie ausführt.
[5]
Viele Kritiker betrachten deshalb das einzelfallbezogene
Quick-Freeze-Verfahren als eine rechtsstaatlich unbedenklichere Alternative zur allgemeinen Vorratsdatenspeicherung.
Während das Kabinett des Bundestages am 18. April 2007 den Entwurf zur Vorratsdatenspeicherung von
Brigitte Zypries beschloss, kam es zu Protestdemonstrationen
[6] vor dem
Reichstagsgebäude.
Im Einzelnen werden die folgenden Kritikpunkte genannt:
[Bearbeiten] Eingeschränkter Nutzen
Die Speicherung von Verkehrsdaten sei notwendigerweise vergangenheitsbezogen und könne daher im Wesentlichen nur der nachträglichen Aufklärung bereits begangener Straftaten dienen. Eine abschreckende Wirkung durch ein höheres Entdeckungsrisiko sei nicht nachweisbar und in Staaten, in denen eine Vorratsspeicherung erfolge, nicht zu beobachten. Unter Berücksichtigung der vielfältigen Umgehungsmöglichkeiten, die vor allem von professionellen Straftätern genutzt würden (z.B. Nutzung von Telefonzellen, fremder Handys, Internetcafes), könne eine Vorratsdatenspeicherung nur in wenigen und regelmäßig wenig bedeutenden Einzelfällen von Nutzen sein. Ein Einfluss auf das Kriminalitätsniveau insgesamt sei in der Praxis nicht zu beobachten. Die Eignung zur Bekämpfung organisierter Kriminalität oder zur Verhütung terroristischer Anschläge sei als äußerst gering bis nicht gegeben einzuschätzen. Durch eine Vorratsdatenspeicherung hätten weder die Anschläge des 11. September 2001 noch die Attentate in Großbritannien im Juli 2006 verhindert werden können. Auch die geplanten Anschläge in deutschen Zügen 2006 hätten nicht verhindert werden können.
Nach einer Studie des Bundeskriminalamts vom November 2005
[7] konnten in den letzten Jahren 381 Straftaten wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufgeklärt werden, vor allem in den Bereichen Internetbetrug, Austausch von Kinderpornografie und Diebstahl. Diese 381 Fälle machten allerdings nur 0,006% der 6,4 Mio. jährlich begangenen Straftaten aus. Laut Kriminalstatistik blieben Jahr für Jahr 2,8 Mio. Delikte aller Art unaufgeklärt. Vor diesem Hintergrund sei nicht einzusehen, warum gerade die Nutzer von Telefon, Handy und Internet überwacht werden sollten, zumal die Aufklärungsquote in diesem Bereich schon ohne Vorratsdatenspeicherung überdurchschnittlich hoch sei.
[Bearbeiten] Missbrauchs- und Irrtumsrisiko
Telekommunikationsdaten hätten einerseits eine sehr hohe Aussagekraft und erlaubten Rückschlüsse über die gesamte Lebenssituation der Betroffenen, seien andererseits aber nicht eindeutig einer Person zuzuordnen. Deshalb entfalteten die Daten einerseits eine große Anziehungskraft auf Personen, die ihren Missbrauch beabsichtigen, könnten andererseits aber auch zu falschen Verdächtigungen führen. Auf Seiten des Staates sei eine Nutzung der Daten zum Vorgehen gegen politische Gegner und staatskritische oder sonst unliebsame Organisationen und Personen zu befürchten. Auch die Nutzung zur Wirtschaftsspionage durch ausländische Staaten sei zu befürchten. Ferner drohe ein Missbrauch durch Private, etwa durch kriminelle Erpresser oder Sensationsjournalisten.
[Bearbeiten] Verursachung von Hemmungen, Abschreckungswirkung
Das Wissen, dass das eigene Verhalten protokolliert wird und in Zukunft gegen den Kommunizierenden eingesetzt werden könnte, wirke
abschreckend. Dieses Wissen könne Menschen in Not davon abhalten, die Hilfe von Beratungsstellen, Ärzten, Psychologen, Rechtsanwälten oder Seelsorgern in Anspruch zu nehmen.
Whistleblower (
Informanten) könnten davon abgehalten werden, Missstände an die Presse oder Behörden zu melden. Menschen könnten davon abgehalten werden, sich staatskritisch zu engagieren. Mittelbar gefährde dies die gesamte
offene Gesellschaft, deren Funktionieren die
Unbefangenheit der Bürger voraussetze.
[Bearbeiten] Kontraproduktive Wirkung
Eine Vorratsdatenspeicherung begünstige die Entwicklung und Verbreitung technischer Mittel zur Verschleierung elektronischer Spuren. Dies könne eine Überwachung selbst in konkreten Verdachtsfällen vereiteln.
Ein Beispiel ist ein
Onion-Router wie z. B. ein
TOR-Server, der zum privaten Internet-Zugang genutzt wird: Damit wird nicht nur der
Traffic verschlüsselt, sondern es werden sogar Traffic-Analysen geblockt.
[Bearbeiten] Wirtschaftliche Auswirkungen
Eine Vorratsdatenspeicherung ziehe Investitions- und Unterhaltungskosten in dreistelliger Millionenhöhe nach sich. Dies könne die Insolvenz kleiner Anbieter, die Einstellung kostenloser und die Verteuerung kostenpflichtiger Dienste zur Folge haben.
[Bearbeiten] Juristische Argumente
Juristisch wird argumentiert, eine Vorratsdatenspeicherung verstoße gegen die
Grundrechte der Kommunizierenden und der Telekommunikationsunternehmen. In Deutschland liege ein Verstoß gegen das
Fernmeldegeheimnis und das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung, gegen die
Meinungs-,
Informations- und
Rundfunkfreiheit, gegen die
Berufsfreiheit und gegen das Gleichbehandlungsgebot vor. Auf europäischer Ebene sei ein Verstoß gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention gegeben, und zwar gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz, gegen die
Meinungsfreiheit und gegen das Recht auf Achtung des Eigentums.
Der Nutzen einer Vorratsdatenspeicherung sei gegenüber ihren schädlichen Folgen unverhältnismäßig gering. Eine verdachtsunabhängige Protokollierung des Telekommunikationsverhaltens der gesamten Bevölkerung sei exzessiv. Über 99% der von einer Vorratsdatenspeicherung Betroffenen seien unverdächtig und hätten keinen Anlass zu einer Protokollierung ihrer Kommunikation gegeben. Untersuchungen zufolge würden weniger als 0,001% der gespeicherten Daten von den Behörden tatsächlich abgefragt und benötigt.
Oft wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 2003 (Az. 1 BvR 330/96)
[8] zitiert, in dem es heißt: "Die schwerwiegenden Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis sind nur verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn die Gegenbelange entsprechend gewichtig sind. Das Gewicht des Strafverfolgungsinteresses ist insbesondere von der Schwere und der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat abhängig (vgl. BVerfGE 100, 313 <375 f., 392> )
[9]. Insofern genügt es verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, dass die Erfassung der Verbindungsdaten allgemein der Strafverfolgung dient (siehe oben aa). Vorausgesetzt sind vielmehr eine Straftat von erheblicher Bedeutung, ein konkreter Tatverdacht und eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme, dass der durch die Anordnung Betroffene als Nachrichtenmittler tätig wird. [...] Entscheidend für das Gewicht des verfolgten Anliegens ist auch die Intensität des gegen den Beschuldigten bestehenden Verdachts (vgl. BVerfGE 100, 313 <392> )
[9]. Voraussetzung der Erhebung von Verbindungsdaten ist ein konkreter Tatverdacht. Auf Grund bestimmter Tatsachen muss anzunehmen sein, dass der Beschuldigte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen hat (vgl. auch BVerfGE 100, 313 <394>)
[9]."
Die
Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung sei wegen Verstoßes gegen die Gemeinschaftsgrundrechte und wegen fehlender Rechtsgrundlage nichtig. Der Europäische Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 30. Mai 2006 zur Übermittlung von Fluggastdaten festgestellt, dass die Europäische Gemeinschaft für den Bereich der öffentlichen Sicherheit und der Strafverfolgung nicht zuständig sei. Eine Pflicht zur Umsetzung der
Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung bestehe nicht, weil die europäischen Organe bei Erlass der Richtlinie ihre von den Mitgliedstaaten eingeräumten Kompetenzen überschritten hätten. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Maastricht-Urteil entschieden, dass derartige Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich seien und die deutschen Staatsorgane aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert seien, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Europäische Gerichtshof bereits über die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte entschieden habe.
In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 3. August 2006 zur "Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nach europäischem und deutschem Recht"
[10] heißt es: "Es bestehen Bedenken, ob die Richtlinie [über die Vorratsdatenspeicherung] in der beschlossenen Form mit dem Europarecht vereinbar ist. Dies betrifft zum einen die Wahl der Rechtsgrundlage, zum anderen die Vereinbarkeit mit den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechten." Weiter sei "zweifelhaft, dass dem Gesetzgeber aufgrund der europarechtlichen Vorgaben eine verfassungsgemäße Umsetzung gelingen wird."