Festes Wasser
Clarcielle Nybana stand auf dem Steg und starrte auf das Wasser, mit ihrer Hand schirmte sie ihre Augen vor der brennenden Sonne der Letzten Saat. Am Horizont tat sich nichts. Sie malte sich aus, was sie fühlen würde, wenn Jon endlich ankam. In ihren Gedanken wechselten sich angenehme Empfindungen mit allmählich stärker werdenden Schreckensszenarien. Ihm war doch hoffentlich nichts geschehen? Jon Alusaron war ein hochrangiger und noch dazu verheirateter Offizier der Kaiserlichen Garde mit den höchsten Auszeichnungen. Und als solcher durfte es keinen Zusammenhang zwischen ihm und Clarcielle geben. Sie war seit jeher nur eine Fischerin gewesen, sie besaß nichts und das würde sich auch niemals ändern. Hier in Glanengrund war sie geboren und hier würde sie auch beerdigt, dessen war sie sich sicher. Jon dagegen war ein Freigeist. Er liebte es fremde Länder zu erkunden und andere Kulturen zu sehen. Seine Reiselust und Ungebundenheit hatten ihn schon in alle Provinzen Tamriels geführt, außer natürlich nach Schwarzmarsch. Er konnte sich nie richtig binden und auch nie lange an einem Ort bleiben. Als er in die Kaiserstadt kam, war er schon etwas in die Jahre gekommen, aber sein Lebensstil hatte ihn jung gehalten. Nichts desto trotz war er in die Dienste des Kaisers eingetreten und hatte es weit gebracht. Auch hatte er geheiratet, irgend eine adelige Großstadtschnepfe.
Doch Clarcielle wusste, dass er nicht glücklich war. Er war nun mal ein Mensch mit tausend Ideen und romantischen Vorstellungen gleichzeitig. Bei einer Inspektion des Umlands hatte er sie kennen gelernt. Wenn man sie heute fragen würde, wie ihre Beziehung zustande gekommen ist, dann könnte sie es nicht einmal genau sagen. Es ist einfach irgendwie geschehen. Aber sie war nicht traurig oder gar beschämt darüber. Auch das er verheiratet war, interessierte sie wenig, genauso wie Jon. Seine Frau habe von Anfang an gewusst, worauf sie sich einlasse, hatte er einmal zu Clarcielle gesagt.
Und sie hatte ihm geglaubt. Sie traute ihm einfach alles zu. Er war das perfekte Gegenstück zu ihrem beschaulichen Leben. Sie hätte die Fischerei in Glanengrund niemals aufgegeben, schon ihr Urgroßvater war hier Fischer gewesen. Aber es war beruhigend für sie, dass es noch eine andere Welt gab, auch wenn sie sie gar nicht kennen lernen wollte.
Doch seine Liebe zu ihr hatte auch seinen Preis. Er war ehrenhaft genug, die Beziehung nicht auffallen zu lassen. So fielen seine Besuche immer in den Abend, da dann seine Schicht begann. Auch konnte er die Kaiserstadt nicht per Pferd verlassen, das gehörte nicht zu seinem Aufgabengebiet als Offizier. Vielmehr war er ein Inspekteur der umliegenden Fischerdörfer und als solcher reiste er per Schiff. Wenn er Clarcielle also besuchte, dann tat er das nur in einem Boot, auch wenn das weitaus langsamer war. Und genau heute kam er nicht. Clarcielles Sorgen wurden immer stärker.
Als Kind hatte ein Magier in der Nähe von Glanengrund gelebt. In ihrer freien Zeit war sie manches mal bei ihm gewesen und hatte sogar ein paar Zauber gelernt. Am besten beherrschte sie den Spruch „Festes Wasser“. Das war ja auch zu erwarten, als Fischerstochter war sie ein Kind des Wassers. Doch diese Zeit war lange vorbei und irgendwann hatte sie ihre Kindheit hinter sich gelassen und der Alltag war eingekehrt. Nun war sie so verzweifelt, dass sie sich fast dazu bereit schlagen würde, diesen Spruch erneut anzuwenden. Vielleicht war Jon gekentert oder sein Boot hatte ein Leck und er konnte deshalb nicht zu ihr kommen. Wenn sie den Zauber aussprechen würde, dann könnte sie kurz auf den Niben gelangen und nach Jon sehen. Ja, sie war nicht geübt, aber er war schon so lange überfällig und ihre Sehnsucht so groß. Sie ging auf das Wasser zu und überwand ihre Furcht. Mit geschlossenen Augen sagte sie die Formel auf und stellte sich vor, wie das Wasser unter ihr winzige Fäden bildete, die sie zu einem dünnen Netz verwebte. Das Netz wurde dicker und stärker und als sie glaubte, dass das Netz sie tragen würde, machte sie den Schritt nach vorn. Es war, als laufe sie nur in einer Pfütze, anstatt auf einem sprudelnden Strom. Jetzt, wo sie den ersten Schritt getan hatte, fiel es ihr leichter in die Mitte des Niben zu gelangen. Dann wandte sie sich nach Norden, verließ die Bucht. Die Silhouette des Weißgoldturm tauchte am dunklen Abendhimmel auf und sie wanderte darauf zu. Weit und breit war nichts von Jon oder seinem Boot zu sehen. Häufig musste sie den Spruch erneuern, sonst wäre sie in das Wasser gefallen. Das Gewässer wurde langsam unruhiger, sie kam den Stromschnellen immer näher. Auch wenn die Flussoberfläche hart wie Stein war, Clarcielles Schritte waren keineswegs sicher. Ohne den Zauber könnte sie keine zwei Minuten überleben. Doch daran dachte sie nicht, ihre Gedanken wanderten zu dem alten Magier, den sie immer gemocht hatte. Er war weise gewesen, wenn auch ein wenig harsch. Plötzlich kam ihr ein Rat in den Sinn, den der Magier ihr mal gegeben hatte: „Wende die Zauber ruhig an, du wirst sicherer dadurch und bekommst mehr magische Kraft. Doch verausgabe dich nie, sonst wird es dir schlecht ergehen.“ In diesem Moment endete der Spruch und sie war zu müde, um ihn erneut zu wirken.
Mit dem sicheren Tod vor Augen versank sie langsam in den tosenden Fluten.
Am Ufer von Glanengrund stand ein Offizier der Kaiserlichen Wache, neben ihm ein schwarzer Hengst. Enttarnung hin oder her, er hatte den Landweg genommen, um schneller bei ihr zu sein.