Von dem Sprecher war nichts zu sehen, doch seine unheilige Stimme nahm den ganzen Raum ein. Velwyn schlotterten die Knie, und sogar der griesgrämige Khajiit M'raaj-Dar war für einen kurzen Moment starr vor Schreck.
"Wo bist du?", rief Sarnek, "Zeig dich!"
"Oh, du brauchst mich nicht zu sehen, denn meine Stimme ist Beweis genug für meine Gegenwart. Meine sterblichen Überreste jedoch liegen genau vor Euch auf diesem Altar, von der Magiergilde zerstümmelt und von Ratten und Würmern zerfressen. Dies war die gerechte Strafe für meinen Verrat an den Neun, für meine frevelhaften Experimente."
Einen kurzen Moment hielt Lorgren inne, dann sprach er weiter:
"Ja, ich gebe es zu. Man tat gut daran, mich zu töten. Ich bereue all die Grausamkeiten, die ich den Menschen und der Natur antat und möchte nur noch meinen Seelenfrieden finden.
Doch leider bin ich an diesem Ort hier gefangen. Die Hand, die man mir abhackte, ist der Schlüssel zu meiner Freiheit. Bitte bringt sie mir, damit ich die Welt der Sterblichen endlich verlassen kann. Ich sehne mich nach Frieden."
"Meinst du vielleicht diese Hand?", trat nun Velwyn nach vorne und hielt Lorgrens Knochenhand hoch. Sein Großvater klang erfreut.
"Ah, du musst Velwyn sein. Wie lange hab ich gewartet. Ja, mein Junge, dass ist sie. Schnell, leg sie auf den Altar."
Velwyn wollte diesem Wunsch gerade nachkommen, als Sarnek ihn zurückhielt.
"Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist", raunte er, doch der Junge antwortete: "Ich auch nicht, aber irgendwas sagt mir, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Ich muss es tun!"
"Ich hab schon wieder eine ganz üble Vorahnung", brummte M'raaj-Dar und ging ein paar Schritte zurück, als er den jungen Benirus mit der Skeletthand auf den Altar zulaufen sah.
Vorisichtig legte er die Hand an die Stelle, an der sie einst gehört hatte, als das Skelett plötzlich verschwand. Lorgrens Stimme jedoch war noch immer gegenwärtig, doch nun klang sie amüsiert. Er lachte.
"Es ist immer das selbe Spiel mit euch sterblichen Narren. Viel zu leicht lass ihr euch beeinflussen. Endlich kann ich mein Werk vollenden. Und nichts und niemand kann mich aufhalten. Ihr jämmerlichen Menschen am allerwenigsten!"
Mit einem Schlag viel die Geheimtür hinter ihnen zu.Velwyns Versuch, sie wieder zu öffnen, endete mit einem kräftigen Blitzschlag, der ihn bewusstlos zu Boden gehen ließ. Sie waren eingeschlossen.
Lorgrens Skelett, dass eben noch auf dem Altar lag, tauchte nun am Ende des Raumes wieder auf und ging sofort zum Angriff über. In seiner Hand hielt er einen langen Zauberstab, mit dem er sogleich einige Untote beschwor und sie auf die kleine Gruppe hetzte.
"M'raaj-Dar! Telaendril!", rief Sarnek hastig, "Ihr gebt uns Rückendeckung! Und passt auf Velwyn auf."
Mit diesen Worten stürmte er mit Cascada auf die Untoten los und erledigte sie nacheinander. Doch Lorgren Benirus ließ sich nicht lumpen und beschwor gleich eine neue Welle. Überlegen erklang sein bösartiges Lachen. Tatsächlich schien es so, als hätte die Macht des Nekromanten keine Grenzen.
"So kommen wir nicht weiter!", erkannte Cascada, "Wir müssen Lorgren direkt angreifen."
"Das ist Wahnsinn. Wie sollen wir an den rankommen?"
Lorgren verbarg sich hinter einem mächtigen Schutzschild, dass sich durch nichts durchdringen ließ. Alles, was mit ihm ihn Berührung kam, ging sofort in Flammen auf. Es war aussichtslos.
Auch M'raaj-Dar erkannte das Problem und hatte nun eine schwere Entscheidung zu treffen. Seine Zauberkraft war beinahe aufgebraucht, aber für einen kräftigen Spezialzauber würde er noch reichen. Sofern er funktioniere, könnte es ihnen einen entscheidenden Vorteil bringen, wenn nicht ... .
"Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte Telaendril besorgt, doch der Khajiit überhörte ihre Frage.
"Es gibt wohl keinen anderen Weg!" murmelte er und lief selbstsicher auf den Altar zu und stellte sich darauf.
"Telaendril", sprach er ruhig, "Du wirst mich gleich auffangen müssen. Am besten machst du dich schon einmal bereit."
"Was hast du vor?", fragte die Bosmerin verwirrt und stellte sich hinter dem Magier auf.
"Das wirst du gleich sehen. Hoffen wir, dass es funktioniert. Sonst sehen wir uns in der Hölle wieder."
M'raaj-Dar stellte sich breitbeinig auf den Altar und streckte die Arme zur Seite aus. Dann schloss er die Augen und murmelte einige magische Worte.
Eine tiefblaue Aura umgab den Khajiit nun, gleißendes Licht verließ seinen Körper und erfasste Lorgrens magische Kuppel.
Lorgren bemerkte diesen Angriff natürlich und jagte dem Magier sofort einen Zauber entgegen, welcher jedoch an seiner Aura abprallte.
"Verdammter Magier!", fluchte der untote Nekromant, "Glaubst du ernsthaft, dein lächerlicher Zauber ist meiner Macht gewachsen? Du bist schon so gut wie tot."
"Was bei Oblivion macht M'raaj-Dar?", staunte Sarnek, "Hat der jetzt völlig den Verstand verloren?"
"Sarnek, schau!"
Cascada verwies ihn auf die Kuppel. Unter dem Zauber des Magiers begann sie leicht zu flackern. Seine Kraft ließ nach.
"Damit hast du nicht gerechnet, Sarnek!", zischte M'raaj-Dar angestrengt, "Dass ich ausgerechnet dir mal den Hintern retten würde. Glaub nur nicht, dass wir deswegen Freunde sind. Meine Chance wird kommen, und dann werde ich dich töten."
Der Zauber zerrte inzwischen an M'raaj-Dars Gesundheit. Lange würde er ihn nicht mehr aufrecht erhalten können, ehe es gefährlich für ihn werden würde. Telaendril beobachtete ihn entgeistert.
Schließlich war es geschafft. Lorgrins Schutzschild fiel in sich zusammen, und auch der Nekroment war geschwächt von den Beschwörungen und dem Kampf gegen den Khajiit, der ihm ein ebenbürtiger Gegner war.
Doch auch M'raaj-Dar war am Ende. Ohnmächtig klappte er in sich zusammen und fiel von Telaendril gestützt zu Boden.
"Das war euer letzter Fehler!", drohte Lorgren, "Meinen Schild mögt ihr gestürzt haben, doch ich stecke immer noch voller Überraschungen!"
In diesem Moment attackierte er Sarnek,Cascada und Telaendril mit Blitzzaubern. Unmenschliche Schmerzensschreie erfüllten den Raum. Nun würden sie sterben. Ein sinnloser Tod durch einen untoten Nekromanten, der seine Villa nicht verlassen wollte.
Nur langsam fand er sein Kraft wieder. Von weitem hörte er entsetzte Schreie - und das Lachen dieses Monsters, der zu Lebzeiten sein Großvater war.
Velwyn schlug die Augen auf und erhob sich mit letzter Kraft vom Boden. Nun erkannte er, was geschehen war. Die Schreie kamen von seinen neuen Freunden, die unter Lorgrens grausamer Macht Todesqualen erlitten und sich dennoch nicht geschlagen geben wollten. Und er - Velwyn - hatte sie da hineingezogen.
Vorsichtig stand er auf, er war noch recht wacklig auf den Beinen. Es musste etwas geschehen, sonst war alles verloren. Lorgren war zu sehr mit Sarnek und den anderen beschäftigt, als dass er auf andere Dinge achten könnte. Vielleicht war das seine Chance, endlich einmal tapfer zu sein, seinen Wert zu beweisen. Vor allem aber galt es, die Menschen zu retten, die sich gewissermaßen für ihn aufopferten.
"Schluss, Lorgren!", brüllte er seinem Großvater zu, "Lass von ihnen ab!"
Lorgren wandt sich überheblich grinsend seinem Enkel zu und sprach: "Du wagst es, mir Befehle zu erteilen, du Narr?"
"Ich bin Velwyn Benirus, Blut von deinem Blut. Und du hast meiner Familie Schande bereitet. Ich bin hier, um dir endgültig das Handwerk zu legen."
"Velwyn, was tust du da?", röchelte Sarnek. Sein Körper war wie der seiner Kameraden völlig geschunden und mit Brandspuren übersät. Es war nicht abzusehen, wie lange sie Lorgrens Folter noch überstehen könnten. Telaendril war längst bewusstlos geworden.
"Er wird dich umbringen!", fügte Cascada hinzu, doch Velwyn schreckte nicht zurück.
"Wir werden alle hier drin sterben, wenn ihn keiner bezwingt. Es gibt kein Zurück mehr."
"Und was willst du nun tun, mein Junge?", entgegnete Lorgren amüsiert, "Willst du mich mit deinem mickrigen Schwert in deiner Hand niederstrecken? Oder besitzt du etwa eine Fähigkeit, von der ich noch nichts weiß?"
"Ich besitze etwas viel Mächtigeres - meine Ehre!"
In diesem Moment brachte er sein Schwert in Anschlag und stürmte mit Kampfgeschrei auf Lorgren zu. Der antwortete sofort mit einem Kugelblitz, aber bemerkte viel zu spät, dass der Angriff gar nicht ihm selbst galt, sondern seinem Stab - seiner mächtigsten Waffe.
Im letzten Moment wich Velwyn aus, riss gleichzeitig die Klinge hoch und ließ sie auf den Stab fahren. Ein sauberer Schnitt durchtrennte das schlanke verzierte Holz, womit seine Macht zunichte war.
Lorgren schrie wütend auf. Sein eigener Enkel hatte ihn besiegt, doch unter keinen Umständen wollte er diesen Verrat ungesühnt lassen.
Mit seiner letzen Kraft packte er Velwyn und rammte ihn die scharfkantigen Überreste seines Zauberstabes in die Brust.
"Wenn ich zur Hölle fahre, wird mich der Letzte der Benirus ebenfalls begleiten!", raunte Lorgren dem sterbenden Velwyn zu, doch der lächelte nur schwach.
"Zu spät!", röchelte Velwyn zufrieden, "Meine Frau ist wohlauf und erwartet in den nächsten Tagen ein Kind. Ich bin nicht mehr der Letzte."
Darauf löste sich Lorgren endgültig in Luft auf, und Velwyn ging schwer atmend zu Boden.
"Geschieht mir Recht!", keuchte Velwyn, "Was muss ich auch den Helden spielen." Er lachte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Sarnek ging neben ihm auf die Knie und schaute ihm in die Augen. Es war zu spät für ihn. Kein Heilmittel der Welt konnte ihn jetzt noch retten.
"Warum nur hast du das getan?" fragte er.
"Weil es mein Schicksal war. Euer Leben ist kostbarer als meines. Auf diese Weise konnte ich zumindest meinen Teil dazu beitragen."
"Du bist ein tapferer Mann, Velwyn Benirus!", entgegnete Cascada und küsste dem Kaiserlichen sacht auf die Stirn, "Deine Familie würde gewiss stolz auf dich sein."
"Ihr solltet jetzt gehen, Freunde. Sobald der Fluch vom Haus fällt, wird es hier ein ordentliches Chaos geben, aber danach dürfte es wieder bewohnbar sein. Sarnek, dies ist übrigens für dich."
Velwyn streckte Sarnek seine Klinge entgegen. Es war ein silbernes Kurzschwert mit einem brüllenden Löwenkopf in sein Heft eingeritzt.
"Dies ist die Ehrenklinge der Benirus. Keine andere Waffe hätte Lorgrens Stab zerstören können. Lange Zeit wusste ich nichts von der Macht des Schwertes, doch dann erkannte ich die Wahrheit. Ihre Macht wird von deiner Ehre und deiner Tapferkeit gespeist. In deinen Händen wird sie zu einer mächtigen Waffe im Kampf gegen deine Feinde."
"Ich danke dir!", entgegnete Sarnek und nahm das Schwert entgegen.
Plötzlich begann es unter seinen Füßen zu vibrieren. Auch Cascada und Telaendril blickten verdutzt.
"Es ist soweit!", sprach Velwyn, "Ihr müsst hier raus, sofort!"
In diesem Moment wurde das Erdbeben gewaltiger. Ein riesiger Strudel tat sich im Boden auf und verschlang alles, was ihm in die Nähe kam.
"Raus hier!", wiederholte Velwyn noch einmal, ehe er ebenfalls vom Strudel verschluckt wurde.
Sarnek schulterte den noch immer ohnmächtigen Khajiit und folgte den beiden Bosmerinnen, die sich mit aller Kraft an den Wänden festkrallten und gegen den Sog des Strudels ankämpften. So arbeiteten sie sich Schritt für Schritt Richtung Ausgang hin, ehe sie endlich wieder im Freien standen. Die Sonne war bereits aufgegangen.
Das Erdbeben hatte aufgehört, aber das Haus stand noch immer an seinem Platz. Allerdings hatte es sich verändert. Es sah aus, als hätte man es eben erst frisch renoviert. Es war wieder das schönste Haus in Anvil. Der Fluch war gebannt.
Ende Kapitel XII (3/3)