Kapitel I: Der Kompass
Es war das Jahr 499 nMS. Es war Nacht geworden über Glyn, das kleine Fischerdorf schlief.
Zu dieser Jahreszeit war die Luft recht schwül, und aus der südlichen Ralum-Bucht zog dichter Nebel in das Dorf und hüllte es fast vollständig ein, so dass Mond und Sterne am ansonsten klaren Nachthimmel nicht mehr zu erkennen waren. Überall roch es nach Meer und Fischen. Eigentlich schien alles wie immer zu sein.
Während ehrbare Menschen die Nacht nutzten, um sich ihren wohlverdienten Schlaf zu gönnen, trieb es andere hinaus auf die Straße, um sich ihren Geschäften zu widmen. Räuber und Diebe wurden sie genannt, oder kurz: Verbrecher. Um die Tätigkeiten solcher Personen einzudämmen, verhängten die Oberhäupter Ausgangssperren und harte Strafen für jene, die sie nicht beachteten. Doch gab es nur Wenige, die sich davon abschrecken ließen. Auch in dieser Nacht gab es zumindest eine Person, die trotz Ausgangssperre nicht daran dachte, ihren Auftrag zu vernachlässigen.
Gehüllt in einen nachtschwarzen Umhang, dessen Kapuze sein Gesicht vollständig verbarg, streifte der Fremde lautlos durch Glyns schattige Gassen. Überall war es totenstill, lediglich das sanfte Gurgeln des kleinen Baches in der Nähe war zu hören.
Im Osten des Dorfes – ganz in der Nähe der Stadtmauer – erstreckte sich ein dreistöckiger Prachtbau und unterschied sich ganz eindeutig von den Holzhütten der übrigen Dorfbewohner. Dies war die Residenz von Hadaan – der amtierende Bürgermeister von Glyn und einer der zahlreichen Speichellecker des Königs – und als solche das Ziel des Fremden. Im Schatten eines aufgegeben Wachturms in der Nähe der Residenz ging er in Deckung und blickte hinüber.
Eine hohe Steinmauer umgab die Residenz, dahinter begann der weitläufige Vorplatz. Es führte nur ein stabiles Eisentor auf den Platz, und das war um diese Zeit natürlich abgesperrt und wurde bewacht, obgleich die beiden Wachposten nicht unbedingt die Fähigsten zu sein schienen. Einer saß auf dem Boden und verzehrte gelangweilt seinen Proviant, der andere hatte sich auf seine Hellebarde gestützt und döste vor sich hin. Dennoch würde der Fremde wohl kaum unbemerkt an ihnen vorbeikommen, aber das brauchte er auch nicht. Schließlich gab es für einen Dieb von seinem Schlag mehr Wege, als der Mensch zu erkennen vermochte.
Die Tür zum alten Wachturm knarrte leise, als der Fremde sie öffnete und hindurchging, doch die beiden Wachen waren wie erwartet zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Hinter der Tür entzündete der Fremde eine kleine Kerze und schaute sich in dem Raum ein wenig um. Er war kaum größer als seine eigene Stube in seinem Unterschlupf und beherbergte nur ein paar wackelige Stühle und einen winzigen Tisch – alles von der feuchten Luft aufgeweicht und mit fingerdickem Staub überzogen. Im Winter boten die Türme häufig Bettlern und Obdachlosen ein wenig Schutz vor der eisigen Kälte, doch dann kam Hadaan und ließ sie zusammentreiben und einsperren. Wer Glück hatte, wurde „nur“ versklavt und durfte dem Bürgermeister fortan als Küchenhilfe oder Soldat dienen, alle anderen erfroren früher oder später in den eisigen Gefängniszellen.
Eine altersschwache Wendeltreppe führte nach oben zur ehemaligen Schlafkammer des Turms. Einige gammelige und von Ratten zerfressene Matratzen lagen auf dem Holzboden verstreut, Holztruhen waren zertrümmert oder aufgebrochen worden, der Inhalt – hauptsächlich alte Bücher und verweste Kleidungsstücke – flogen überall herum. Offensichtlich hat hier jemand nach Wertsachen und noch Brauchbarem gesucht, dass man verkaufen oder selber nutzen konnte. Ein geübter Dieb vermied es möglichst, solch auffällige Spuren zu hinterlassen, andererseits würde sich ein Dieb auch nicht mit dem Krempel aus alten miefigen Wachtürmen abgeben.
Der Fremde löschte die Kerze und betrat den Balkon. Knapp fünf Meter unter ihm dösten die beiden Gardisten vor sich hin und machten keine Anstalten, daran was zu ändern.
Über dem schweren Tor befand sich eine kleine Wachstube, von der links und rechts die Wehrgänge fortführten. Für gewöhnlich waren auch dort mehrere Wachposten stationiert, doch in dieser Nacht schien sie leer zu sein. Die Gelegenheit war günstig.
Der Fremde lüftete seinen Umhang ein wenig und nahm seine kleine und äußerst vielseitige Armbrust hervor – ursprünglich eine Erfindung der technisch hochbegabten Gnome aus dem Zwergenreich.
In den Lauf legte er einen Wurfanker und zielte auf das Fenster des Wachhäuschens. Wie erwartetet krallte er sich am Sims fest. Das andere Ende des langen Kletterseils knotete der Fremde an den Balkon und schwang sich dann über die Brüstung. Wie ein Artist balancierte er nun mit ausgestreckten Armen über das stramme Seil, zwischen dem Balkon des Turms und dem Wachhäuschen waren es knapp drei Meter. Wenn die beiden Wachen vor dem Tor jetzt aufschauten, wäre alles aus, doch die beiden Schlafmützen dachten überhaupt nicht daran, ihre müden Häupter anzuheben. Schade für sie, Glück für den Fremden.
Auf der anderen Seite angekommen kroch er leise durch das Fenster in die Wachstube und blickte sich kurz um, ehe der Fremde seinen Dolch zur Hand nahm und das Seil genau am Wurfanker durchtrennte. Das Seil verlor seine Spannung und zischte geräuschlos zum Wachturm zurück, wo es nun vom Balkon herunterhing und an der Außenwand entlang tanzte. Auch dieses Mal hatten die Wachposten nichts bemerkt. Niemandem würde es auffallen, wenn an einem alten Wachturm ein scheinbar kaputtes Seil hing. Und selbst wenn, würde der Fremde bis dahin längst über alle Berge sein.
Als nächstes galt es, einen Weg ins Innere der Residenz zu finden, doch das würde nicht ganz so einfach werden. Die Wachposten, die über den Vorhof patrouillierten, waren deutlich aufmerksamer als die beiden Schnarchnasen vor dem Haupttor. Der direkte Weg fiel also schon von Vornherein aus.
Zum Glück gelang es dem Fremden vor einiger Zeit, in der hiesigen Bibliothek einen recht genauen Lageplan des Grundstücks zu organisieren, was auch nicht besonders schwierig war. Immerhin stammte die Residenz noch aus der Zeit von Glyn dem Großherzigen – der erste Bürgermeister und Namensgeber des Dorfes.
Auf jeden Fall war dort auch ein alter Fluchttunnel eingezeichnet, der unter dem Hof verlief und im Keller des Gebäudes endete. Der Eingang war ein tiefer Steinbrunnen, der ein wenig abseits des Hofes stand.
Der Fremde blickte vorsichtig über den nur durch die Fackeln der Wachpatrouillen erleuchteten Hof und entdeckte auch gleich den inzwischen ziemlich brüchigen Brunnen. Offensichtlich wurde er lange nicht mehr benutzt. Blieb nur zu hoffen, dass der Geheimgang überhaupt noch vorhanden war.
Alle paar Minuten passierte eine dreiköpfige Patrouille den Brunnen. Der Fremde musste also schnell sein. Zwischen ihm und dem Brunnen lagen nur ein paar Meter freie Fläche. Allein die Dunkelheit schützte den Fremden vor den wachen Augen der Soldaten, so lange sie nicht zu nahe kamen. Es war ein geringes Risiko, aber immer noch groß genug, um den Einbrecher in ernste Schwierigkeiten zu bringen. Doch der Fremde hatte keine andere Wahl. Er hatte den Auftrag angenommen, und er würde ihn auch durchführen. Immerhin war er ein Profi.
Nachdem er sich versichert hatte, dass die Luft rein war, trat der Fremde auf den Wehrgang hinaus, verwundert darüber, dass er vollkommen verlassen war. Fühlte Hadaan sich in seiner Residenz so sicher, dass er die beiden müden Wachen vor dem Haupttor für ausreichend hielt, oder welchen Grund hatte er sonst, sein Grundstück nicht besser gegen Einflüsse von außen zu verteidigen?
Der Fremde hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken. In einigen Stunden würde der Morgen grauen, und bis dahin wollte er seinen Lohn kassiert und in sein Versteck abgetaucht sein, ehe die Stadtwache auf ihn aufmerksam würde. Daher nutzte er lieber diese ungemein günstige Gelegenheit und schlich über den breiten Wehrgang, immer den Brunnen und die umherstreifenden Wachen im Blick. Irgendwann stand er fast genau über dem Brunnen. Mit einem kleinen Anlauf und einem gut gezielten Sprung würde er mit etwas Glück genau im Schacht landen. Leider war in der Finsternis nur schwer einzuschätzen, wie tief es dort hinunterging. Einen Genickbruch wollte der Fremde nun doch nicht riskieren. Andererseits hatte er kaum eine andere Wahl. Sich mit dem Wurfanker herabzulassen würde zu lange dauern, zumal er sein Ersatzseil vielleicht noch für die Flucht brauchen würde.
Als er sich den Brunnen ein wenig genauer betrachtete, entdeckte er etwas, das sein Problem lösen könnte. An dem Querbalken über dem Brunnen war der Flaschenzug festgemacht, mit dessen Hilfe für gewöhnlich der Wassereimer hochgezogen wurde. Er müsste nur den Eimer herablassen und dann an dem langen Seil bis zum Grund des Brunnenschachtes entlang gleiten. Mit etwas Glück konnte er unten sein, bevor man ihn bemerkte.
Der Fremde wartete ab, bis die nächsten Wachen weit genug von seiner Position entfernt hatte – nach seiner Rechnung würde die nächste Patrouille in knapp zwei Minuten am Brunnen vorbeikommen – und schwang sich dann über die die Zinnen. So weit er konnte, ließ er sich herunterhängen, ehe er sich mit zusammengebissenen Zähnen fallen ließ. Er spürte einen leichten Stich in seinem Beingelenk, als er am Boden ankam, aber ansonsten ging es ihm gut. Er durfte jetzt nur keine Zeit verlieren.
Ohne sich lange aufzuhalten kletterte er in den Brunnen und ließ sich samt Wassereimer in den düsteren Schacht hinab. Von unten drangen bereits die Gerüche von vergammelten Wasser und Schimmel in seine Nase. Der Brunnen wurde also tatsächlich nicht mehr benutzt. Mit einem lauten Plätschern erreichte der Fremde sein Ziel.
„Hast du das auch gehört?“, drang eine Stimme zu ihm herab, „Das kam aus dem Brunnenschacht.“
„Verdammt noch mal!“, dachte der Fremde knirschend, „Mit so was hätte ich rechnen müssen.“
„Sieht so aus, als hätte sich die dämliche Kurbel gelockert“, antwortete eine andere Wache, „Wahrscheinlich war es der Wassereimer, der da unten in eine Pfütze gekracht ist.“
„So laut? Sollten wir nicht besser einmal nachsehen?“
„Nein! Was interessiert uns ein baufälliger alter Brunnen? Oder meinst du, ein Dieb schleicht dort unten in den alten Katakomben rum? Dazu hätte erst einmal an der Torwache vorbei müssen.“
„An den beiden Schlafmützen käme ne ganze Ogerfamilie unbemerkt vorbei. Und wo wir gerade dabei sind: Wo sind eigentlich die ganzen Männer hin, die auf den Wehrgängen patrouillieren sollten. Warum sind sie nicht auf ihren Posten?“
„Der Alte hat sie abkommandiert. Keine Ahnung, warum. Irgendeine Geheimoperation. Mehr hat man uns nicht erzählt, und ich will es ehrlich gesagt auch gar nicht genauer wissen. Und jetzt lass uns weitergehen, bevor uns Dante wieder die Hölle heiß macht.“
Als die beiden Wachen sich wieder entfernten, atmete der Fremde erleichtert auf. Dieses kleine Malheur hätte ihm fast alles verdorben, aber zum Glück zählten diese beiden Soldaten nicht unbedingt zu der pflichtbewussten Sorte. Was das wohl für eine geheime Operation war, die der Bürgermeister da plante?
Der Fremde verwarf den Gedanken sofort wieder und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Auftrag. Er hatte schon genug Zeit verloren, und weitere Patzer wie der letzte konnte er sich nicht leisten.
Auf den ersten Blick stand er in einem ganz normalen runden Brunnenschacht mit feuchten und mit Schimmel überzogenen Wänden, in dem sich bestenfalls Spinnen und anderes Getier wohl fühlten. Doch dann erkannte er, dass sich eine Stelle an der Wand geringfügig von dem Rest unterschied. Sie wirkte ein wenig heller und sauberer, so als wäre sie erst nachträglich eingelassen worden. Wenn sich der Fremde nicht irrte, war dies der geheime Eingang zu den Katakomben, die die eine Wache erwähnt hatte, aber wie war sie zu öffnen? Der Fremde konnte keinen geheimen Schalter ausmachen, wie sie Geheimtüren für gewöhnlich hatten. War diese Tür etwa nur von der anderen Seite zu öffnen?
„Das würde mir gerade noch fehlen!“, knirschte der Fremde lautlos und tastete nervös die Wand ab. Schließlich entdeckte er unter einer der Schimmelablagerungen in der Nähe der Geheimtür eine kleine Öffnung – gerade groß genug, um die Hand hineinzustecken. Vorsichtig suchte er das Loch ab und stieß schließlich gegen eine schmale Eisenstange, die entweder ein Hebel zum Öffnen war oder der Auslöser einer tödlichen Falle. Gleich würde der Fremde es wissen.
Er zog die Stange zu sich und beobachtete den Eingang. Eine schreckliche Sekunde lang geschah nichts, doch dann glitt die falsche Wand tatsächlich zur Seite. Der Fremde grinste erleichtert.
Hinter der Tür erstreckte sich ein langer gemauerter Gang mit mehreren Nischen links und rechts, in denen staubige und mit Spinnenweben übersäten Holzsärge und Urnen standen. Dazwischen erzählten nur noch schwer als solche zu erkennende Wandgemälde die Geschichten und Legenden von Glyn dem Großherzigen. Für einen Historiker war dieser Raum eventuell die reinste Goldgrube, der Fremde jedoch hatte materiellere Interessen und hoffte daher nur, dass nicht irgendein magiebegabter Spaßvogel die Toten in den Särgen mit einem Zauber belegt hatte, auf dass sie zum Leben erwachen und ihn angreifen würden, sobald er die Katakomben betrat. Als Einbrecher und Dieb war der Fremde so gut wie unübertroffen, doch für den Kampf war er bei Weitem nicht geschaffen, erst recht nicht gegen eine Horde Untoter.
Zum seinem Glück blieb seine Sorge unbegründet und er unbehelligt von dem Zorn lebender Skelette und Zombies. So schlich der Fremde im Schein der Fackeln an den Wänden durch den geradlinigen Flur, bis er am anderen Ende vor einer weiteren Wand stand, wohinter sich höchstwahrscheinlich der Keller der Residenz befinden musste.
Diesmal war der Öffnungsmechanismus offensichtlicher angebracht – ein ungenutzter Fackelhalter rechts neben der Wand, die auch sofort ihren Zweck erfüllte und den Weg zum Keller freimachte.
Der leichteste Teil seines Auftrags war somit geschafft, ab jetzt würde es deutlich anspruchsvoller werden. Der Fremde vermutete das Objekt im Arbeitszimmer des Bürgermeisters im dritten Stock des Hauses, und überall gab es Wachen, die sofort Alarm schlagen würden, sobald sie den unerwünschten Gast erblickten.
Von seinem Auftraggeber wusste er, dass sich im Erdgeschoss die Küche und die Wohnräume der Bediensteten befanden. Einer dieser Diener, ein gewisser Hobbes, war einer seiner Kontaktleute und würde den Fremden am Treffpunkt erwarten und ihn weiter instruieren. Als Treffpunkt gab er den Vorratsraum der Küche an, da diese nur tagsüber bewacht wurde, damit von dort niemand heimlich verschwinden konnte.
Der Keller der Residenz war recht groß und beherbergte hauptsächlich jede Menge Fässer mit unterschiedlichen Weinen und Bieren, aber auch allerlei Lebensmittel wie Fleisch und Käse, Obst und Gemüse. Dabei fiel dem Fremden ein, dass ihm auch schon eine ganze Weile der Magen knurrte, aber das Essen wird noch ein Weilchen warten müssen.
Hinter den Regalen führte eine kleine Holztreppe zur einzigen Tür im Keller. Dahinter begann das Erdgeschoss, doch leider war sie abgeschlossen. Aber was wäre der Fremde für ein Dieb, wenn er auf so eine Eventualität nicht vorbereitet gewesen wäre? Erneut griff er an den Gürtel unter seinem Umhang und holte seine Dietriche hervor. Das Schloss der Kellertür war primitiv und ließ sich ohne größere Probleme öffnen. Keine zwei Sekunden später schnellte der Riegel mit einem kaum hörbaren Klicken zur Seite und gab die Tür frei.
Wie erwartet waren im Erdgeschoss nur wenige Wachen postiert, vor allem vor den Schlafkammern der Sklaven. Hobbes war nach den Angaben seines Auftraggebers so etwas wie der Vorarbeiter der Bediensteten und hatte dadurch mehr Freiheiten als die anderen. Unter anderem wurde er auch weniger überwacht, zumindest weniger offensichtlich. Es war kein Grund, unvorsichtig zu werden, aber immerhin räumte es ihm ein paar nützliche Vorteile ein – und dem Fremden.
Laut Lageplan befand sich die Küche nicht sehr weit vom Keller entfernt, doch musste er dabei an einer bewachten Schlafkammer vorbei. Umgehen konnte er die Wache nicht, weil der Flur dafür viel zu eng war. Also blieb dem Fremden nur eine Möglichkeit, aber auch dafür war er entsprechend gerüstet.
Das Erdgeschoss wurde nur spärlich beleuchtet, so dass es nicht allzu schwierig war, im Schatten zu bleiben, bis er schließlich die besagte Tür erreichte. Wie vermutet stand dort eine einzelne Wache vor der Tür der Schlafkammer und blickte stur geradeaus. Mit einem Überraschungsangriff von der Seite schien er wohl nicht zu rechnen – sehr zu seinem Bedauern.
Der Fremde holte einen kleinen Knüppel hervor, den er für Notfälle bei sich trug, und tastete sich auf Zehenspitzen an der Wand entlang, bis er nah genug war. Dann holte er aus, und … die Wache klappte bewusstlos zusammen. Doch ehe er auf den Dielenboden krachte und so vielleicht seine Kameraden alarmierte, fing der Fremde ihn auf und schleifte ihn zurück zum Keller, um ihn dort einzusperren. Bis er wieder erwachte, würde einige Zeit vergehen, und so verhinderte er, dass jemand zufällig über ihn stolperte. Nun war der Weg zur Küche frei, und war es an der Zeit, diesen Hobbes einen kleinen Besuch abzustatten.
„Seid gegrüßt, Fremder!“, sprach der kleine Mann mit dem vernarbten Gesicht und einem widerlich überheblichen Grinsen, als der Fremde die geräumige Vorratskammer hinter der Küche betrat.
„Ihr müsst der Dieb sein, der mein Boss mir ankündigte. Ihr habt euch ja reichlich Zeit gelassen.“
„Offensichtlich leidet Hadaan sehr unter der Angst, jemand könne ihn berauben“, antwortete der Fremde mit verstellter Stimme, „Seine Wachen machen es mir mitunter nicht leicht, ihn in seiner Furcht zu bestätigen.“
„Eure Anwesenheit gibt ihm allen Grund dazu, wie mir scheint, Fremder. Mein Boss wünscht sich nichts sehnlicher, als den wertvollsten Besitz des Bürgermeisters in seinen gierigen Händen zu halten, und nach meinen neuesten Informationen kommt Ihr keinen Tag zu spät.“
„Sprecht weiter!“, forderte der Fremde Hobbes hellhörig geworden auf.
„Mir kam zu Ohren, dass der Bürgermeister eine geheime Operation plant, oder vielmehr eine geheime Reise, auf der ihn das Objekt begleiten soll. Sicher ist Euch schon aufgefallen, dass die Wehrgänge auf der Mauer rund um die Residenz völlig unbesetzt sind. Sie sollen Hadaan eskortieren. Warum er dafür seine fähigsten Bogenschützen abkommandierte, wusste mir allerdings niemand zu berichten.“
„Was ist das überhaupt für ein Objekt, das solch einen Aufwand rechtfertigt.“, fragte der Fremde, „Wisst Ihr mehr darüber?“
„Ich weiß nur, dass irgendeine Magie in diesem Gegenstand wohnen soll. Vielleicht der Schlüssel zu einem viel wertvolleren Schatz, vielleicht ein Relikt aus der Zeit vor der Magischen Spaltung. Genaueres wissen mit Sicherheit nur der Boss oder Hadaan höchstpersönlich, wenn überhaupt.“
„Also gut, Hobbes. Dann zeigt mir den Weg in Hadaans Arbeitszimmer, damit ich meinen Auftrag erfüllen kann. Wenn dieses Kleinod wirklich von Magie erfüllt ist, möchte ich es nicht länger in des Bürgermeisters Hände wissen.“
„Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob es in Carlos’ Händen besser aufgehoben ist“, gab Hobbes nachdenklich und beinahe flüsternd zu bedenken.
„Wie meint Ihr das?“
„Missversteht mich nicht, Fremder. Ich zähle mich zu seinen treuesten Männern und würde es niemals wagen, ihn zu hintergehen, allein schon aus Angst vor seinem Zorn. Doch spüre ich, dass in dieser Welt bald eine große Veränderung vor sich gehen wird, und dass dieses Objekt, was immer es auch sein möge, einen entscheidenden Beitrag dazu leisten könnte. Und wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, dann sollte es besser in den Händen liegen, die damit umzugehen verstehen.
Carlos wird es nur an den Meistbietenden verkaufen oder in seiner Vitrine verstauben lassen, und Hadaan ist nur ein Schoßhund des garstigen Königs. Ich an Eurer Stelle würde auf die Belohnung verzichten und das Ding im Meer versenken.“
Hobbes schob eines der Regale zur Seite und drückte in der Wand dahinter einen hervorstehenden Backstein, wodurch die Wand zur Seite glitt und den Blick auf eine lange Holzleiter freigab.
„Die Leiter führt direkt ins Arbeitszimmer“, erklärt der kleine Mann, „Oben werdet Ihr genauso eine Geheimtür wie diese finden. Wegen Hadaan müsst Ihr euch auch keine Sorgen machen. Er ist mit einigen Männern zum Hafen gegangen, um die letzten Vorbereitungen für seine Abreise zu treffen. Lediglich vor seiner Tür werden einige Wachen stehen, also verhaltet Euch leise. Übrigens werden bald die ersten Diener und Wachen die Küche bevölkern, Ihr werdet also leider eine andere Möglichkeit finden müssen, das Haus wieder zu verlassen. Viel Glück!“
Der Fremde betrat den winzigen Schacht mit der Leiter und machte sich an den Aufstieg, als er noch einmal Hobbes’ Stimme vernahm: „Und denkt über meine Worte nach!“
Dann wurde es finster, die Wand hatte sich wieder geschlossen.
Eine anstrengende Minute später hatte der Fremde endlich Hadaans Arbeitszimmer erreicht. Wie angekündigt war der Bürgermeister nicht da. Blieb nur zu hoffen, dass er den Gegenstand in seinem Wahn nicht mitgenommen hatte, sonst wäre alles umsonst gewesen.
Der Fremde trat vollends ins Zimmer und ließ die Wand an seinen Platz zurückgleiten, ehe er sich umschaute. Den größten Teil der Kammer nahm Hadaans gewaltiger Marmorschreibtisch ein, auf der sich einige Dokumente und Schriftrollen in unterschiedlichen und größtenteils für ihn unverständlichen Sprachen stapelten. Die Schubladen waren vollgestopft mit allerlei Plunder. Das geschulte Auge des Diebes identifizierte über die Hälfte davon als drittklassige Fälschungen, die man bei jedem Trödler für einen Hungerlohn erstehen kann. Entweder war der Bürgermeister ein Liebhaber kitschiger Imitationen, oder er ließ sich regelmäßig von selbsternannten Geschmeidehändlern übers Ohr hauen. Fast könnte man Mitleid haben mit dem Alten, doch der Fremde wusste sich zu beherrschen. Jedenfalls bezweifelte er, dass irgendetwas davon Carlos’ Aufmerksamkeit derart erweckt hatte, dass er es für sich haben wollte. Es sei denn, der Wert wäre emotionaler Natur, doch das konnte er sich bei einem Mann vom Kaliber seines Auftraggebers absolut nicht vorstellen.
An der Wand gegenüber der Tür stand ein nicht minder prachtvolles Bett, in dem letzte Nacht offensichtlich niemand gelegen hatte. Da erst zum Morgengrauen jemand zum Aufräumen kam, war anzunehmen, dass Bürgermeister Hadaan wohl zugunsten seiner Reisevorbereitungen auf das Schlafen verzichtet hatte. Was hatte der Alte nur vor, und was hatte es mit diesem Ding auf sich? Wenn er es nur endlich finden würde, damit der Fremde verschwinden konnte, ehe die Wachen vor der Tür auf die Idee kämen, im Zimmer nach dem Rechten zu sehen.
Außer dem Schreibtisch und dem Bett gab es nur noch zwei große Truhen. In der einen bewahrte er seine Kleidung auf, die andere beinhaltete nur das Beutegut zahlreicher „Gesetzloser“, die er und seine Männer gefasst hatten, als er noch Gardehauptmann war. Statt die Beute ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben, hatte er sie als „Bezahlung für seine Dienste“ einbehalten. Darunter war auch ein altes vergilbtes Schriftstück, das von einem wertvollen Kompass erzählte, welchem angeblich eine ganz besondere Macht innewohnte. Der Fremde wusste nicht, warum, aber irgendwie fühlte er sich an Hobbes’ Worte erinnert. Ob es wohl dieser Kompass war, nachdem er suchte?
Mit einer gewissen Vorahnung nahm er das Schriftstück an sich und verschloss die Truhe wieder. Dann ließ er seine Blicke noch einmal durch das gesamte Arbeitszimmer schweifen, tastete alles ab. Was hatte er nur übersehen?
Wieder beim Bett angelangt erkannte er schließlich, dass damit irgendwas nicht stimmte. Der gesamte Rahmen bestand wie der Schreibtisch aus weißem Marmor und hatte am Fußende den Kopf eines brüllenden Löwen eingraviert, auf dessen Stirn ein grüner Saphir schimmerte. Und eben dieser Saphir war es, was den Fremden stutzig machte. Er passte nicht ins Bild.
Instinktiv streichelte der Fremde darüber, drückte es, versuchte es zu drehen. Plötzlich schob sich das Löwenmaul zur Seite und gab ein ungewöhnliches Schloss mit zwei Schlüssellöchern frei.
Der Fremde hatte nicht erwartet, ein solches Doppelschloss hier zu finden. Sie waren verdammt selten und ebenso teuer. Selbst die reichsten Leute leisteten sich nur eines, wenn sie etwas besonders Wertvolles zu beschützen hatten. Hadaan wusste offensichtlich, welch außergewöhnlichen Wert er in seinem Besitz hatte und wollte es bestmöglich geschützt wissen.
Der Fremde hatte von diesen Schlössern gehört und ihre Funktionalität studiert, aber bisher hatte er noch keine Möglichkeit, seine Kenntnisse auch in der Praxis einzusetzen.
Es war nicht unmöglich, ein solches Schloss zu knacken, aber es bedurfte einer ungeheuren Geschicklichkeit – selbst für den Besitzer.
Zuerst benötigte man die beiden richtigen Schlüssel – im Falle des Fremden zwei auf die Schlösser perfekt abgestimmte Dietriche. Diese galt es dann zeitgleich in die jeweils richtige Richtung zu drehen. Eine falsche Drehung, und das Spiel begann von vorn.
Der Fremde betrachtete sich die Schlüssellöcher ganz genau, versuchte ihre Beschaffenheit zu erfühlen. Dann nahm er zwei unbearbeitete Drahtstücke aus seinem Beutel und brachte sie in die Form, von der er glaubte, dass es die richtige war. Dann schob er sie testweise in die Öffnungen. Sie passten.
Nun galt es die richtige Kombination an Drehungen herauszufinden. Eine zeitaufwendige Angelegenheit, aber er hatte keine andere Wahl. In knapp einer halben Stunde würden die ersten Sonnenstrahlen am Horizont erscheinen, und dann würde jemand nachschauen kommen, ob alles in Ordnung sei. Bis dahin musste der Fremde verschwunden sein – und mit ihm der Kompass, oder was es auch immer war.
Wie erwartet brauchte er einige Anläufe, bis er die richtige Kombination gefunden zu haben glaubte. Seine Hände zitterten ein wenig – ein Phänomen, dass er seit seiner Zeit als Anfänger nicht mehr erlebt hatte.
„Komm schon!“, versuchte der Fremde sich selbst zu beruhigen, „Du bist ein Profi! Du schaffst das. Du musst das schaffen!“
Und tatsächlich. Endlich erlöste ihn das charakterisierende Klicken des Schlosses von seinen Qualen. Der gesamte Löwenkopf klappte nach unten, und dahinter kam ein ungewöhnlich geräumiger Tresor zum Vorschein, in dem ein etwa faustgroßer und hübsch bearbeiteter Gegenstand lag, der zumindest ansatzweise an einen Kompass erinnerte. Bevor der Fremde seine Beute allerdings genauer betrachten konnte, hörte er Schritte vor der Tür. Anscheinend war der Bürgermeister frühzeitig zurückgekehrt. Er schien sich mit jemandem zu unterhalten, aber die Worte waren zu unverständlich.
Schnell steckte der Fremde den Kompass in seinen Beutel am Gürtel und verschloss den Tresor wieder. Nun musste er nur noch einen Weg hier raus finden. Die Tür und der Geheimgang waren tabu, aber vielleicht konnte er über den Balkon fliehen.
Er öffnete die Glastür und trat hinaus. Unter ihm ging es mehrere Meter tief hinunter, so dass er einen überhasteten Sprung nie und nimmer überleben würde. Stattdessen zog er sich auf das ebene Dach hinauf und legte sich hin, damit ihn die Wachen im Hof unter ihm nicht sofort entdeckten.
Der Fremde kroch zur Rückseite des Gebäudes und schaute hinab. Unter ihm führte die Steinmauer knapp an der Rückwand vorbei, die Wehrgänge waren nach wie vor nicht besetzt.
Er griff nach seinem Wurfanker und machte ihn an der Dachkante fest. Dann knotete er sein Ersatzseil an den Anker und ließ es vom Dach rutschen. Das Seil reichte bis fast auf den Boden. Ohne lange zu zögern schwang sich der Fremde über die Kante und rutschte langsam am Seil hinab. Kaum hatte er wieder festen Boden unter den Füßen und seinen Wurfanker eingeholt, hörte er auch schon Hadaans hysterische Stimme schreien: „Der Kompass! Man hat mich ausgeraubt!!“
Nun war es für den Fremden endgültig an der Zeit, die Beine in die Hand zu nehmen und sich wieder unsichtbar zu machen. Der neue Tag hatte begonnen.