Übersetzung eines Artikels von Andreas Inderwildi (Eurogamer, 23.05.2019) über eines der denkwürdigsten Bücher Morrowinds.
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Die grandiose Seltsamkeit von Morrowinds Ingame-Büchern
„Ich bin ein Brief, der in Ungewissheit geschrieben ist.“ - Vivec, Lektion 4*
Wenn es ein Beispiel für Stimmungstexte in Videospielen gibt, die mehr als nur Atmosphäre hinzutun, dann sind es die Ingame-Bücher aus The Elder Scrolls III: Morrowind. Ich erinnere mich, wie ich (vor 17 Jahren!) zum ersten Mal eine der Bibliotheken Vvardenfells betrat und von den alten Wälzern überwältigt war - nicht nur von der schieren Informationsfülle, sondern vor allem auch ihrer evokativen Fremdartigkeit. Und schon damals stach für mich ein Werk heraus: Die 36 Lehren des Vivec, verfasst vom hermaphroditischen Kriegerpoeten Vivec (aka Vehk), einem der lebenden Götter Morrowinds. Damals wirkten sie auf mich wie vollkommener Humbug, und es half auch nicht gerade, dass man die in 36 Einzelbänden enthaltenen, über ganz Vvardenfell verstreuten Lektionen nicht in der richtigen Reihenfolge fand. „Ich bin ein Brief, der in Ungewissheit geschrieben ist.“ - Vivec, Lektion 4*
Geschrieben von Ex-Bethesda-Entwickler Michael Kirkbride, sind die 36 Lehren Vivecs eigene Darstellung seiner** seltsamen Geburt, seines Lebens und Aufstiegs zur Gottheit als Teil des Tribunals (oder ALMSIVI), der drei Gottkönige von Morrowind. Wie der Titel nahelegt, enthalten sie Vivecs Weisheit und Philosophien, von denen einige für niemand anderen als den Nerevarine gedacht zu sein scheinen, der erwarteten Reinkarnation von Vivecs erstem Heiligen Nerevar, auch der Hortator genannt. Jeder Morrowind-Spieler weiß, dass der Spielercharakter selbst im Verdacht steht, der Nerevarine zu sein und sich ein Großteil der Hauptstory darum dreht, diesen Verdacht bei allen Fraktionen Vvardenfells zu bestätigen. In gewisser Weise scheinen die Lektionen direkt zu uns als Protagonisten des Spiels zu sprechen.
Versuchen sie aber, uns zu lehren oder zu manipulieren? Das lässt sich nicht immer sagen. Die 36 Lehren sind oft dunkel und schwierig, mit Rückgriffen und Anspielungen auf zahlreiche Texte sowohl im Spiel als auch außerhalb. Leute, die sich in Morrowind-Lore besser auskennen als ich, haben darauf hingewiesen, dass ihr Stil und Gehalt von Hinduschriften wie der Bhagavad Gita oder dem Ramayana beeinflusst wurde. Einige Stellen zitieren auch die Dichtung von W.B. Yeats und die okkultistischen Schriften Aleister Crowleys.
Die 36 Lehren sind einer Vielzahl (meist) religiöser, esoterischer und mythologischer Schriften verpflichtet. Die einzelnen Bände werden Lektionen [engl. Sermons] genannt. Manche Worte Vivecs erinnern an Sprichworte oder Parabeln. Es gibt einige prophetische Stellen, die zum Beispiel die Ankunft des Nerevarine vorwegnehmen. Die Geschichten von Konfrontation, Verwandlung, Täuschung, Zeugung, Schöpfung und Zerstörung lassen Sprache und Tropen von Mythen widerhallen. Viele dieser Mythen sind ätiologisch, also Ursprungsmythen, die zu erklären versuchen, wie etwas entstanden ist. Die 36 Lehren erzählen nicht nur von Vivecs eigener Geburt in Form eines Eis, sondern auch, wie seine Stadt (ebenfalls Vivec genannt) über den Knochen eines seiner Dämonenkinder, des Hordenberges (24), errichtet wurde, und wie ein anderes namens Lügenfels zu dem schwebenden Felsbrocken wurde, der über der Stadt hängt (33).
Besonders stark sind in den Lektionen esoterische und hermetische Traditionen. Wortmagie spielt in den Geschichten eine große Rolle, einige häufig wiederholte Phrasen wie „Das Ende der Worte ist ALMSIVI“, der Schluss (fast!) jeder Lektion, erinnern an Beschwörungen. Echos esoterischer Vorstellungen wie Emanationen lassen sich in den „Entfaltungen“ der Lektionen erkennen; Wesenheiten, die andere in sich verbergen. Die meisten Symbole in den 36 Lehren ziehen deutliche Parallelen zur langen Geschichte hermetischer Schriften, darunter das (kosmische) Ei, das Schwert, der Turm, Feuer und Wasser, die Planeten (die mitunter als Geister oder Götter auftreten), Körpermerkmale wie das Auge oder die Hand, das Rad, und auch geometrische Grundformen wie Kreise und Dreiecke, Kreuze und Sterne.
Die intensive, fast halluzinogene Bildsprache der 36 Lehren erinnert an das Buch der Offenbarung, das Johannes von Patmos’ Vision der letzten Tage beschreibt. Nehmt die Seltsamkeit von Offenbarung 9:7 (Luther 2017): „Und die Heuschrecken sahen aus wie Rosse, die zum Krieg gerüstet sind, und auf ihren Köpfen war etwas wie goldene Kronen, und ihr Antlitz glich der Menschen Antlitz“. Viele Stellen der Offenbarung lassen den Leser ebenso rätseln wie die Lektionen, indem sie zuerst wie Nonsens wirken, aber auch auf tiefere Bedeutungen unter der Oberfläche hinweisen, die sich nur dann zeigen, wenn man genauer hinschaut. Warum braucht das Tier eine Zahl, und warum ist sie „sechshundertsechsundsechzig“ (13:18)? Was in aller Welt soll das Tier sein, „das ist gewesen und ist jetzt nicht und wird wieder aufsteigen” (17:18)? Und was hat es mit dem Engel auf sich, der Johannes aufträgt, ein „Büchlein“ zu essen, „es wird dir bitter im Magen sein, aber in deinem Mund wird's süß sein wie Honig“ (10:9)?
Es gibt auch subtilere Parallelen. Zahlen von ungewisser Bedeutung sind in beiden Texten wichtig. Zum Beispiel die Lektionen: „Der Sohn bin ich selbst, Vehk, und ich bin in drei, sechs, neun und dem Rest, der folgt“ oder „Ich bin Vehk, Euer Beschützer und der Beschützer des Roten Berges, bis ans Ende der Tage, die 3333 beziffert sind“ (6). Beide teilen ein lebhaftes Interesse an Himmelskörpern und ihrem symbolischen Wert. Und auch über die Offenbarung hinaus schwingen in den Lektionen Aspekte christlicher Theologie mit. Das Tribunal, drei Facetten des Ganzen, erinnert an die Heilige Trinität von Vater, Sohn und heiligem Geist. Ebenso esoterisch ist die Vorstellung der Erwartungen [engl. Anticipations]: Der Daedrafürst Mephala etwa wird manchmal als die Erwartung Vivecs bezeichnet, was das Konzept der Typologie oder Präfiguration anklingen lässt: Figuren aus dem Alten Testament antizipieren die des Neuen. Das Opfer Isaaks zum Beispiel wird oft als Präfiguration des Todes Christi aufgefasst.
Eines der erstaunlichsten Dinge bei den 36 Lehren ist, dass sie einen fortlaufenden und akribischen Interpretationsprozess ausgelöst haben. In diesem digitalen und vergleichsweise säkularen Zeitalter haben Lore-Scholaren eine beängstigende Menge von Erläuterungen und sogar eine kommentierte Version der Lektionen erstellt - ein Unterfangen, das der jahrtausendealten Tradition der Bibelexegese entspricht.
Das allein würde genügen, um Literatur und Lore Morrowinds für ein Videospiel einzigartig zu machen, aber auch das ist nur die halbe Geschichte. Die Lektionen sind nicht bloß eine sinngetreue Rekonfiguration alter Traditionen und Genres. Ihre Verwendung alter Tropen ist tatsächlich in mancher Hinsicht (post)modern und subversiv.
Der Hauptgrund dafür ist, dass Bedeutung, Schrift und Interpretation selbst eines der wichtigsten Themen der 36 Lehren darstellen. Mit anderen Worten: sie thematisieren, sich ihrer selbst bewusst und oft augenzwinkernd, unsere Schwierigkeiten damit, den Text zu verstehen. Vivecs Schüler Nerevar ist von den dunklen Lehren seines Meisters oft hoffnungslos verwirrt: „Der Hortator wanderte durch die Grämende Feste und rang mit den Lektionen, die er gelernt hatte. Er konnte sie in seinem Geist nicht greifen. Er konnte die Worte nicht klar ordnen, und er wusste, dass darin eine Gefahr lag“ (16). Da unser Protagonist als Reinkarnation Nerevars gilt, steht er hier gewissermaßen für uns als Leser ein. Seine Verwirrung ist unsere Verwirrung, und die Lektionen nehmen unser Bemühen um Verständnis schon vorweg.
Die Lektionen scheinen uns zu sagen, dass Bedeutung nicht absolut, sondern veränderlich und subjektiv ist. Früh in seinem Leben, als er noch ein Ei ist, begegnet Vivec dem Geist At-Hatoor:
Der dritte Geist, At-Hatoor, stieg zum Weib des Netchmannes hinab, als sie eine Weile unter einem Kaiserschirmling Rast machte. Sein Gewand war aus Implikationen von Bedeutung gefertigt, und das Ei schaute es drei Mal an.
Beim ersten Mal sprach Vivec:
„Ha, es bedeutet gar nichts!“
Nachdem er ein zweites Mal hingeschaut hatte, sagte er:
„Hm, vielleicht steckt ja doch etwas dahinter.“
Und schließlich, nachdem er At-Hatoors Gewand lange von der Seite angeschaut hatte, sprach er:
„Faszinierend, wie man etwas, das keinerlei Details hat, Bedeutung verleihen kann!“
„Das wäre doch ein gutes Sprichwort“, sagte At-Hatoor und ging.
Beim ersten Mal sprach Vivec:
„Ha, es bedeutet gar nichts!“
Nachdem er ein zweites Mal hingeschaut hatte, sagte er:
„Hm, vielleicht steckt ja doch etwas dahinter.“
Und schließlich, nachdem er At-Hatoors Gewand lange von der Seite angeschaut hatte, sprach er:
„Faszinierend, wie man etwas, das keinerlei Details hat, Bedeutung verleihen kann!“
„Das wäre doch ein gutes Sprichwort“, sagte At-Hatoor und ging.
Die Lektionen greifen hier spielerisch unseren eigenen Lektüre- und Deutungsprozess auf. Zuerst sehen wir nur Nonsens. Aber wenn wir dann noch einmal hinsehen, glauben wir, vielleicht etwas von der tieferen Bedeutung des Textes zu erahnen. Die Lehren mögen vielleicht nicht „keinerlei Details“ haben, aber das „Sprichwort“ ist trotzdem insofern zutreffend, als unsere Deutung ebenso sehr von dem abhängt, was nicht gesagt wird - dem Leerraum zwischen den Zeilen - als auch dem sehr ambivalenten Text selbst. Bedeutung ist nie festgeschrieben, nie perfekt oder vollkommen. Wenn doch, dann wäre sie tot, ohne Interesse oder Nutzen für irgendjemanden und am allerwenigsten Vivec selbst. Eine der Hauptlehren Vivecs besagt, dass Schöpfung und Fruchtbarkeit nur aus Chaos und Wandel entstehen, während Stasis nur ein anderes Wort für Tod ist. Die 36 Lehren sind kein Rätsel, das es zu lösen gilt, denn die Auflösung führt zu Stagnation und sogar zur Auslöschung: „Vivec sprach: 'Jetzt bist du gelöst', und er durchbohrte sein Kind mit Muatra. Mondachse war nun zu etwas Statischem reduziert und zersprang daher.“ (20)
Die spirituelle Notwendigkeit von Ambiguität und Ungewissheit wird in Vivecs sonderbarem Schlagabtausch mit dem Kanzler der Exaktheit deutlich:
Schließlich erschien der Kanzler der Exaktheit, und er war von jedem Blickwinkel aus betrachtet perfekt. Vivec verstand die Herausforderung auf der Stelle und sprach:
„Gewissheit ist für die Rätselwürfel-Logiker und Mädchen von weißem Glanz, die sie in ihrer eigenen Zeit hegen. Ich bin ein Brief, der in Ungewissheit geschrieben ist.“
Der Kanzler beugte sein Haupt und lächelte auf fünfzig unterschiedliche und perfekte Weisen zugleich. Er zog das Astrolabium der Universums aus seiner Robe und brach es entzwei; dann gab er beide Hälften dem Ei-Bild von Vivec.
„Gewissheit ist für die Rätselwürfel-Logiker und Mädchen von weißem Glanz, die sie in ihrer eigenen Zeit hegen. Ich bin ein Brief, der in Ungewissheit geschrieben ist.“
Der Kanzler beugte sein Haupt und lächelte auf fünfzig unterschiedliche und perfekte Weisen zugleich. Er zog das Astrolabium der Universums aus seiner Robe und brach es entzwei; dann gab er beide Hälften dem Ei-Bild von Vivec.
Vivec lehnt Gewissheit als Trivialität und seiner unwürdig ab. Und wenn Vivec selbst zu komplex für ein Verstehen ist, muss das auch für seine Lektionen gelten. Der Punkt der Lektionen ist nicht, auf ein endgültiges Verständnis hinzuarbeiten, sondern immer wieder provisorische Facetten ihrer Bedeutung zu erkunden, die einen Moment da sind und im nächsten wieder verschwinden. Die Lektionen zeigen, dass es eine Freude sein kann, nicht vollständig zu begreifen, sondern Ungewissheit und vielfältige Implikationen zu akzeptieren. Wäre es anders, würden Fans diese Texte nicht noch 17 Jahre später studieren und diskutieren.
* Die Lektionsübersetzungen stammen aus ESO, dessen DV genauer ist als die aus TESIII. Ich habe ein einführendes Lektionszitat gekürzt, weil die DV aus Reimzwang nicht ganz der EV entsprach. Auch die Formulierung vom „Brief, der in Ungewissheit geschrieben“ ist fällt im Original mehrdeutiger aus; „letter“ meint auch den einzelnen Buchstaben (Vehk ist ein daedrischer Buchstabe).
** Im Originaltext immer „theirs“ (singular they), wenn vom androgynen Vivec die Rede ist. Da es im Deutschen kein sinnvolles Äquivalent gibt, habe ich stattdessen Vivecs Pronomen aus TESIII: Morrowind benutzt.
** Im Originaltext immer „theirs“ (singular they), wenn vom androgynen Vivec die Rede ist. Da es im Deutschen kein sinnvolles Äquivalent gibt, habe ich stattdessen Vivecs Pronomen aus TESIII: Morrowind benutzt.
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