"Bitte stattet Serjo Mora meinen zutiefst empfundenen Dank ab." Lian arrangierte Timsa-Blüten in einer Vase und erfreute sich an dem Duft. "Der Mord war ein makelloses Opfer an Mephala. Der Fürst der Intrigen muss sehr zufrieden mit seinen schwarzhändigen Schülern sein." Sie lächelte. "Und hoffentlich auch mit uns."
"Darf ich mir die Bemerkung erlauben ..."
"Nein, dürft Ihr nicht, Servar. Ich weiß ohnehin, was Ihr sagen wollt. Dass ich unbedacht gehandelt und mir das Tribunal zum Feind gemacht habe. Richtig?"
Statt einer Antwort verneigte sich der Alte stumm. Lian lächelte erneut.
"Ich nehme mir die Freiheit, diesmal nicht Eurer Meinung zu sein. Als Feind betrachtet hat Fürst Vivec mich und unser Haus längst. Daran ließ er keinen Zweifel." Sie drehte sich zu Servar Mith um. "Einem Feind, mit dem ich nicht verhandeln kann, muss ich kraftvoll gegenüber treten. Es war an der Zeit, unserem übermütigen Tribunal zu zeigen, dass das Haus, in dem sie sich niederzulassen gedenken, bereits andere Bewohner hat. Bewohner mit älteren Rechten - und den zugehörigen Waffen. Die Morag Tong, Haus Mora seit jeher ergeben, mag nur aus Sterblichen bestehen, doch auf ihre Weise ist ihre Macht ebenso ewig wie die eines Gottes." Ihr Lächeln erstarb und wich ehrfürchtiger Scheu. "Und hinter der Morag Tong steht eine Macht so uralt und endlos, dass die neu gewonnenen Kräfte unseres Tribunals davor zu Asche zerfallen müssen. Oh, ich will sie Demut lehren, unsere taugrünen Götter. Ich will ihnen zeigen, wie viel und wie wenig ihre Göttlichkeit bedeutet. - Habe ich Euch berichtet, dass Vivec selbst auf Ephen zu sprechen kam, für den mein Vater einen Kult einrichtete und den er als Gott verehren ließ?"
Ein eigentümlicher Ausdruck war auf ihre sonst so beherrschten Züge getreten. War das der Wagemut ihres berühmten Heldenvaters, fragte sich Servar Mith.
"Was habt Ihr vor, Eure Majestät? Wollt Ihr den alten Kult neu beleben, als Konkurrenz zu dem des Tribunals?"
"Mehr noch", sagte Lian. "Ich will selbst einen Kult einrichten. Lasst nach einem geeigneten Ort für ein Bauwerk Ausschau halten, das den Tempel in Gramfeste in den Schatten stellt." Sie lächelte. "Und sobald alles bereit ist, verkündet, dass die Hochkönigin von Ebenherz beschlossen hat, ein neues Heiligtum zu errichten. Ein Heiligtum für den vergöttlichten Heldenkönig Ra'athim Moraelyn."
Viel Volk lief zusammen, als Hochkönigin Ra'athim Lian in vollem Ornat, mit großem Gefolge und in Begleitung beider Söhne von Ebenherz nach Gramfeste zog. Lian wusste, die Dunmer würden das Zeichen, das sie setzte, begreifen, auch ohne es bewusst zu verstehen.
Der alte Tempel Ephens, nie sehr prunkvoll (das hätte, so hieß es allgemein, nicht dem Charakter des Stifters entsprochen), war in den letzten Jahren nahezu brach gelegen, nur mühsam instand gehalten von einigen alten Mönchen. Mit viel Aufwand hatte Lian ihn herrichten, gesprungene Fliesen auswechseln, Bilder und Statuen reinigen und Efeu vom Mauerwerk reißen lassen. Nun strahlte der kleine Tempel in neuem Glanz, und die frisch ernannte Priesterschaft empfing die Königin mit malerisch wehenden Roben bereits auf den Stufen. Lian kniete nieder, während die Priester sich verneigten.
"Ich bin gekommen, meinem verehrten Oheim, dem göttlichen Ephen, meine Ehrerbietung zu erweisen." Sie sprach so laut, dass das Volk vor dem Eingang es in jedem Fall verstehen musste. "Und um ihn um seinen Segen und seinen göttlichen Ratschlag zu ersuchen in einer wichtigen Angelegenheit."
Ihre Worte wurden aufgefangen und weiter gereicht durch die dicht gedrängten Reihen der Zuschauer. Befriedigt stellte sie fest, wie die ersten Blicke hinüber flogen zum Tempel der drei "lebenden Götter". Oh, sie verstanden, ihre Dunmer. Sie verstanden, was die Königin sagen wollte: Hierher war sie gekommen, in den Schoß der alten Traditionen und des Gotts ihrer eigenen Familie, um Segen und Hilfe zu erlangen. Hierher, nicht hinüber zu den jungen Göttern.
Befriedigt von diesem Ergebnis betrat sie den Tempel, einen düsteren, hallenden Raum, der kaum genug Platz für ihr engeres Gefolge bot und der geprägt war von jenem merkwürdig fremdartigen Götterstandbild, dessen tieferer Sinn sich selbst Lian entzog. Ein Gott mit einem Hammer vor einem adamantenen Altar, der die Form eines Amboss hatte ... war Ephen ein Schmied gewesen? Nun, zweifellos würde er ihr helfen, den ersten ihrer erträumten Pläne zu schmieden.
Sie kniete der Form halber eine Weile vor dem Altar nieder, während die Mönche Choräle sangen und Räucherstäbchen verbrannten. Als sie sich erhob, tat sie ihr Bestes, eine verklärte Miene aufzusetzen.
"Lasst die Menge wissen", sagte sie leise zu einer ihrer vertrauten Zofen, "die Königin habe im Gebet in einer bedeutenden Frage Hilfe und Erleuchtung empfangen. Meine lieben Dunmer haben ein Recht, über die wichtigen Belange ihrer Königin unterrichtet zu werden."
Der zweite Zug kam ihnen auf der Straße entgegen, als die Königin und ihr Gefolge den Tempel verließen. Er war kaum weniger prunkvoll, wenn auch seltsam chaotisch, als habe man ihn überhastet zusammengestellt.
Und nur ein goldhäutiger Chimer schwebte in seiner Mitte.
Lian lächelte. Sie wusste, sie hatte einen Sieg errungen, und er schmeckte süß wie Nektar. Hätte die Hochkönigin Gramfeste aufgesucht und wieder verlassen, ohne dem Tribunal ihre Reverenz zu erweisen, so wäre das ein Schlag ins Gesicht der neuen Götter gewesen. Um diese Konfrontation zu vermeiden, musste das Tribunal ihr nun entgegen gehen. Welch ein Triumph!
Lian beschloss, die Ohrfeige für ihre Gegner etwas abzumildern, indem sie schon auf die Knie sank, noch ehe Almalexia zwischen ihren Priestern hindurch nach vorne getreten war.
"Fürstin Almalexia!" rief sie, wiederum so laut, dass alles Volk es hören konnte. "Bitte scheltet mich nicht, dass ich Euch nicht zuerst begrüßte. Es war eine dringende familiäre Angelegenheit, die mich an den Altar meines Oheims führte - nein: jagte. Eine brennende Begierde des Herzens, die keinen Aufschub duldete, und die nirgendwo sonst gestillt werden konnte."
Nimm das, du hochgeborene Gattin eines Guartreibers!
Die goldhäutige Chimer ließ nicht erkennen, ob sie verstanden hatte, was Lian tat. Mild lächelnd beugte sie sich zur knieenden Königin hinter, umfasste ihre Schultern und zog sie in die Höhe. Als sie sprach, tat sie es leise und vertraulich und nahm Lian damit die Option, weiter die Stimme zu erheben.
"Nirgendwo sonst?", fragte Almalexia ernst. "Wirklich? Sind nicht auch wir Familie, betrachten wir nicht das gesamte Volk der Dunmer als unsere Kinder? Du enttäuschst uns mit deinem Mangel an Vertrauen, Ra'athim Lian."
Unter anderen Umständen hätte Lian sich über diese vertrauliche Anrede empört. Im Hochgefühl ihres gerade errungenen Sieges erschien ihr Almalexias Verhalten nur als kleinliche Rache, über die sie hinwegsehen konnte. Sie strahlte.
"Es war eine Angelegenheit des Hauses Ra'athim", betonte sie lediglich. In Almalexias Gesicht hoben sich zwei perfekt geschwungene goldfarbene Bögen wie Mondsicheln über den Augen.
"Ihr habt Antwort erhalten auf Eure drängende Frage?"
"Das habe ich, Fürstin."
"Und wollt Ihr uns nicht mitteilen, worum es dabei ging, so dass wir an Eurer Freude teilhaben können?"
"Das will ich gern, Fürstin Almalexia", sagte Lian. "Ihr sollt es als erste erfahren. Wisset, dass mein Vater Ra'athim Moraelyn mir im Traum erschienen ist und mir mitgeteilt hat, seine Heldentaten hätten ihn nach seinem Tod in den Rang eines Gottes gehoben. Er hat mir aufgetragen, zu seinem Gedächtnis und in seinem Namen einen Schrein zu errichten, an dem er für sein Volk weiter Wunder wirken und von dem aus er es beschützen kann als sein vergöttlichter Heldenkönig. Dies war der Grund, weswegen ich in solcher Hast zu meinem Oheim eilte - dem anderen Gott in meiner Familie. Denn wie sollte ich sicher sein, dass meine Vision kein Trugbild war? Deshalb betete ich zu Ephen, und siehe, ich erhielt Antwort. Mein Vater herrscht tatsächlich im Jenseits als ein Gott, und so will ich denn seinen Auftrag erfüllen."
Für einen langen Moment weidete die Hochkönigin sich an dem unbewegten Gesicht ihrer Gegnerin. Sie war sicher, Almalexia erbleichen zu sehen. Doch gerade, als sie sich triumphierend abwenden wollte, schnellte eine kleine goldene Hand vor und umfasste wie eine eiserne Klammer Lians aschfarbenen Arm.
"Sei gewarnt, Ra'athim Lian!", sagte Almalexia mit einer Stimme, die nicht ihre eigene war und doch ganz ihr gehörte. "Maße dir keinen Schatten an, der dich überragt wie ein Berg ein Sandkorn. Du bewegst dich in meinen Domänen. Ein falscher Schritt, und du wirst fallen, und dein ganzes Haus mit dir."
Sie kamen pünktlich und vollzählig, eine Vielzahl schwarzer Schatten, lautlose Hände in Handschuhen, Gesichter hinter Masken, Sohlen, die kein Geräusch und keinen Abdruck im Staub verursachten. Niemand wusste, wer die Versammlung einberufen hatte, doch das wussten sie nie. Stumm glitten sie in die geheime Halle, verneigten sich vor der Statue des Gottes mit den schwarzen Händen, die die Versammlung überragte, und vereinten sich mit der Dunkelheit, die von allen Seiten nach dem Herzen des Raumes griff.
Prasselnd loderten die Opferfeuer in die Höhe, wie von unsichtbarer Hand geschürt, ein wirbelnder Klingentanz in Rot und Gold, goldene Schwertstreiche und Ströme heißen Bluts.
"Wir danken für die Ehre, dir dienen zu dürfen, Fürst Mephala."
Das war, als es geschah.
Die Nacht der roten Messer dehnte sich aus, sie schien kein Ende zu finden. Ein Tanz so heiß und eisig, wie er nie gewesen war seit der Gründung der Morag Tong. Dolche sanken in Rücken, Klingen schlitzten Kehlen, und das Blut färbte die Hände. Die Mörder strömten durch die Gassen, eine unsichtbare, lautlose Brandung im Dunkel, die Leichen an fremde Gestade trug. Jeden einzelnen von ihnen befeuerte in dieser Nacht dasselbe Bild: Das des goldenen Gottes mit den schwarzen Händen, der in den Flammen auf Mephalas Opferaltar seinen Schwerttanz tanzte, unter dessen Füßen Ströme von Blut die Welt durchzogen.
Sie spürte es, noch bevor die Tür aufflog und Sotha Sil herein stürzte, mit seinen zwei nackten Füßen auf den Fliesen wie der Mer, der er gewesen war.
"Wo ist er?"
"Ich weiß es nicht", seufzte sie. "Er sagte, er habe etwas zu erledigen."
"So. Ich würde sagen, er hat es erledigt."
"Das würde ich auch sagen." Vivec trat ein, von Schatten umhüllt, zwei schlanke goldene Schwerter in Händen. "Was zu tun war, wurde getan."
Seine Stimme klang fremd, dachte Almalexia, verändert, oder vielleicht nur gereinigt zu größerer Klarheit wie ein zu Facetten geschliffener Edelstein.
"Die Morag Tong?", fragte Sotha Sil, aber es klang, als kenne er die Antwort schon.
"Hat die unvermeidliche, lautere Wahrheit akzeptiert: dass Mephala nichts als die Verheißung war, die seiner Vollendung - mir - vorausging. Diese Wahrheit werden sie feiern in den Häusern von Haus Mora, ihrer ehemaligen Herren. Mögen sie mich weiter unter Mephalas Namen anrufen. Es stört mich nicht, solange sie nur mir gehören." Er trat aus den Schatten, und Sotha Sil wie Almalexia atmeten erschrocken ein, als sie ihn sahen. Er blickte an sich hinab.
"Ja. Ich fürchte, keine Erhöhung ohne Preis." Seine linke Körperhälfte war aschefarben, die Trennlinie zur goldenen Haut der rechten Seite verlief scharf und gerade wie mit dem Messer gezogen vom Scheitel abwärts.
"Was hast du getan, Junge?" murmelte Sotha Sil. Vivec zuckte die Achseln.
"Was notwendig war. Warum sollte Vivec, Mörder und Gott der Mörder, nicht auch den Fluch seines geliebten Volkes teilen?"
"Wie viele?" fragte Lian. Sie wollte es nicht wissen, und doch musste sie es hören.
"Vierzehn heute Nacht", sagte Servar Mith. "Aber wir haben noch nicht alle Berichte erhalten."
"Azura, hilf." Es war ein leerer Stoßseufzer, wusste Lian. Weder Azura noch Boethia würden ihren Anhängern zu Hilfe eilen, allen Gelübden und Schwüren der Gläubigen zum Trotz. Und Mephala hatte sie offenbar verraten.
"Haus Beelith ist praktisch ausgelöscht", fuhr Servar Mith fort. "Bis auf einen Säugling in der Wiege, den wohl eine andere Familie aus Haus Mora adoptieren wird. Nicht mehr existent sind die Familien V'sith und Mlanar. Man hat die letzten Mitglieder gestern in ihren versperrten und verbarrikadierten Häusern gefunden, mit durchschnittener Kehle.
Lian barg das Gesicht in den Händen. "Haus Ra'athim?" wagte sie endlich zu fragen. Servar Mith schüttelte den Kopf.
"Einige Mitglieder dienender Familien. Niemand von Bedeutung."
"Wer?"
"Serjo Narel Girden in Narsis und seine Frau. Der Verwalter Eurer Besitzungen nahe Schwarzlicht, Llordan Thon. Bethyne Rardis."
"Mein altes Kindermädchen."
"Ja, Eure Majestät. Es scheint, als zielten die Morde durchaus darauf ab, Euch persönlich zu treffen, doch vermeiden die Täter offenbar, die Familie Ra'athim direkt zu attackieren." Er brauchte das Wort nicht auszusprechen, das in diesem Satz mitschwang: noch.
"Haus Mora hat in den letzten Tagen einen Blutzoll gezahlt wie in keiner Schlacht, so weit die Erinnerung zurück reicht", fuhr Servar Mith fort. "Die Mörder beginnen stets bei den rangniederen Familien und arbeiten sich langsam nach oben. Wie es typisch ist für die Morag Tong, erweisen alle Vorsichts- und Abwehrmaßnahmen sich als vergeblich."
"Und es gibt keinen Zweifel?" fragte Lian mit Mühe. "Keinen Zweifel, dass es sich um die Morag Tong handelt? - Nein, antwortet nicht, lieber Mith. Es war eine dumme Frage." Lian machte einige Schritte auf und ab. "Sagt mir nur eines: wie? Wie konnte es geschehen, dass die Morag Tong, treuester Verbündeter von Haus Mora, uns in den Rücken fällt?"
Servar Mith konnte nur ratlos die Schultern heben. Verärgert schnippte die Königin mit den Fingern.
"Habt Ihr nicht versucht, mit Golvyn Mora Kontakt aufzunehmen?"
"Natürlich habe ich das. Unsere Kontakte schweigen."
"Was ist mit Mora Andaine, Mora Mirath und Mora Veneleth? Sie sind die Köpfe von Haus Mora, es sind ihre Enkel, Nichten, Neffen und entfernten Vettern, die die Reihen der Morag Tong bevölkern, in Mephalas Namen! Wieso sind sie nicht in der Lage, zu verhindern, dass die Tong sich gegen ihr eigenes Haus wendet?"
"Wer einmal in die Morag Tong eingetreten ist", sagte Servar Mith vorsichtig, "der kappt, so hört man, alle Verbindungen zu seiner alten Familie. Er kennt nur noch ein Haus, die Gilde, nur noch die anderen Attentäter als seine Brüder und ..."
"... und nur Mephala als Vater und Mutter", vervollständigte die Königin. "Ich weiß das alles, Servar. Sagt mir, was sich geändert hat in jenen wenigen Tagen. Weshalb sind Mephalas schwarze Hände plötzlich unsere Feinde? Weswegen zürnt Mephala uns?"
"Eure Majestät, Gerüchte besagen ... es sind natürlich nur geraunte Halbsätze, das Gebrabbel von Betrunkenen in Tavernen ...
"Heraus mit der Sprache, Servar."
"Meine Königin, man soll gehört haben, wie Leute, die der Morag Tong nahestehen, davon erzählten, dass Mephala sich verändert habe", sagte Mith. "Davon, dass er sich seinen Kindern von der Morag Tong gezeigt habe in neuem Glanz, erstanden aus Blut und Feuer. Davon, dass er die Kunst des Mordens auf eine neue Stufe gehoben und sie verklärt habe zur reinen Wahrheit der Vergänglichkeit. Davon, dass Mephala ein anderer geworden sei, ein Höherer. Näher, reiner, wirklicher."
Einen langen Moment weigerte Lian sich, zu begreifen, was Servar Mith da implizierte. Sie taumelte zurück wie unter einem Schlag.
"Das ist nicht möglich. Niemals! Niemals würde die Morag Tong überlaufen zu den drei Emporkömmlingen des Tribunals!"
"Vielleicht nicht willentlich und wissentlich, Euer Majestät. Aber Täuschung ..."
"Nein! Mephala würde es niemals dulden!"
Servar Mith wollte noch einmal widersprechen, sah jedoch ein, dass es sinnlos war. "Mit Eurer Erlaubnis, Eure Majestät, würde ich gerne die Wachen vor den Türen der beiden Kronprinzen verdoppeln. Und auch die übrigen Wachen hier im Palast verstärken."
"Tut, was Ihr wollt, Servar. Vor allem aber seht zu, dass Ihr endlich Golvyn Mora kontaktiert." Sie knirschte mit den Zähnen. "Er wird mir Rede und Antwort stehen, was ihn zu seinem Verrat bewogen hat."
Die Kerze qualmte. Servar Mith langte nach einem feinen Messer und kürzte den Docht. Das Zimmer, edle Texturen, schimmernde Reliefs, poliertes Gold, sank zurück ins Dunkel, ehe er die Flamme neu entzündete.
Weit habe ich es gebracht, dachte er. Enkel eines Nord-Barbaren, Sohn eines Stalljungen. Und brauche ein Messer nur noch dazu, ein Stück Zwirn zu durchtrennen.
Wieder grübelte er über seinen Vater nach. Das Wenige, das er von ihm in Erinnerung hatte, waren Eindrücke von Gelassenheit, von einer Ruhe, die auf den Ruinen von Kampfeslust und Übermut gewachsen war und nichts benötigte als sich selbst. Mith, der Stalljunge ohne Familiennamen, wusste ohne Zweifel, wer er war und was er zu tun hatte, was sich nicht zuletzt äußerte in der bedingungslosen Treue zu Ra'athim Moraelyn und seinen Gefährten. Treu sein, wie Mith treu gewesen war, konnte nur, wer fraglos glaubte, und sich ohne Zweifel im Recht wusste mit seiner Liebe.
Was, so fragte Servar sich nicht zum ersten Mal, was hätte sein Vater wohl gesagt zu der Situation, in der sein Sohn sich befand? Was war recht, was unrecht in einem Streit zwischen Göttern, zwischen Alt und Neu, zwischen Tradition und Erneuerung? Konnte jemand noch hoffen, Gerechtigkeit zu schaffen in einer Welt, die auf Unrecht und Leid erbaut war?
Plötzlich glaubte Servar den Grund dafür zu ahnen, weshalb der Heldenkönig Moraelyn sein Land so selten betreten hatte. An wahre Gerechtigkeit, an den Sieg des Guten zu glauben war nur dem möglich, der fern blieb. Der Abstand hielt zu den schmutzigen Details dessen, was das Leben ausmachte. Der weder sich noch die Welt in ganzer Schwere wahrnahm, immer tanzend, springend auf den Zehenspitzen entlang auf der messerscharfen Schneide zwischen Wut und Gelächter.
Er dachte daran, dass er diesen Gedanken morgen früh mit Lian besprechen sollte. Als er die dunkel gekleidete Gestalt wahrnahm, die - wie lange schon? - geduldig wartend mitten im Zimmer stand, wusste ein Teil von ihm bereits, dass es nicht mehr dazu kommen würde.
"Ihr." Unwillkürlich stand er auf, stellte sich hinter seinen Stuhl.
Golvyn Mora verneigte sich anmutig.
"In Anbetracht unserer langjährigen Bekanntschaft dachte ich, ich sei es Euch schuldig, selbst zu kommen, Muthsera." Man sah keine Waffe an ihm, doch Servar Mith wusste, was der Satz bedeutete. Er wurde blass.
Seltsam, dachte er. So alt und überdrüssig des Lebens ich geworden bin, so sehr fürchte ich doch den Tod.
"Nun also ich." Seine Stimme war fest. Es erfüllte ihn mit Stolz.
"Ich bedaure es", nickte der Meuchelmörder. "Vielleicht wird Euer Tod die Hochkönigin endlich bewegen, von ihrer törichten Haltung abzulassen."
"Töricht? Die Königin dient Mephala, dient den alten Lehren mit ganzem Herzen!"
Golvyn Mora lächelte. "Sie mag vergessen haben, wie verschlungen Mephalas Wege, wie dicht gewoben ihr Netz, wie vielfältig seine Erscheinungen sind."
"Werdet Ihr mir noch eine Frage beantworten?"
"Es ist nicht üblich. Doch eingedenk unserer alten Freundschaft ..."
Freundschaft, wiederholte Servar Mith in Gedanken. Er wollte beinahe lachen und glaubte, von fern seinen Vater einstimmen zu hören.
"Ist es wahr? Hat die Morag Tong sich von Mephala abgewandt?"
"Das wird niemals geschehen, Muthsera. Seid unbesorgt. Mephala ist unsere Mutter und unser Vater. Jedes Opfer, das wir bringen, bringen wir dar im Namen Mephalas."
"Und das Tribunal?"
Golvyn Mora verlagerte das Gewicht aufs andere Bein. "Ihr versteht nicht, könnt es vielleicht nicht, Muthsera. Könnt Ihr einen Mann von seinem Schatten trennen oder seinem Spiegelbild? Nicht anders verhält es sich mit den jungen Göttern. Fürst Vivecs Atem ist der Atem Mephalas. Die Morag Tong hat es verstanden. Es wird Zeit, dass auch Haus Mora es erkennt. - Habt Ihr noch weitere Fragen?"
Servar Mith atmete aus und schüttelte den Kopf. Golvyn Mora bewegte sich kaum merklich.
"Falls es Euch beliebt, könnt Ihr gern versuchen, die Wachen vor Eurer Tür zu alarmieren, Muthsera."
Erneut schüttelte Mith den Kopf.
Stattdessen warf er, als der Assassine sich erneut bewegte, ihm den Stuhl vor die Füße, dessen Lehne er die ganze Zeit umklammert hatte, und stürzte zur Tür.
Er kam fast bis zur Mitte des Zimmers.
Lian hielt die Hände über die glühenden Kohlen im Räucherbecken. Sie empfand nichts mehr. Selten war der Schrein der Ahnen ihr so tot erschienen, leer und grau, nichts als ein Haufen Asche und Knochen. Die Magie, die Bindung ans Gestern, der Handschlag mit der eigenen Vergangenheit, war zu Staub zerfallen.
Noch war Servar Mith nicht hier. Noch bereiteten die Priester seinen Leichnam für die Zeremonie der Verbrennung vor, starr vor Entsetzen darüber, dass die Königin die Asche dieses Dieners mit der der erlauchten Familie Ra'athim zu vermengen gedachte.
Aber auch seine Anwesenheit würde nichts ändern, wusste sie. Nur ein Häuflein Asche mehr in diesem in Stein und Magie gefassten grauen Meer.
"Ihr habt sehr an diesem alten Diener gehangen, nicht wahr?"
Sie war nicht überrascht, seine Stimme zu hören, oder richtiger: es kümmerte sie zu wenig, als dass sie Überraschung hätte empfinden können.
"Das habe ich. Ihr habt Euer Ziel gut gewählt."
Er schwebte an ungefähr derselben Stelle wie beim letzten Mal, in ähnlich entspannter Haltung, ein Knie angewinkelt und locker die Arme darum geschlungen, von denen einer golden, der andere grau war.
"Ich habe lange gezögert, diesen Schritt zu gehen. Vielleicht hätten wir uns einiges ersparen können, wären meine Skrupel geringer gewesen."
Das Wort "Skrupel" entlockte ihr den Ansatz eines Lächelns. "Vielleicht. Nennt mir Eure Bedingungen, Fürst Vivec."
Nun war es an Vivec zu lächeln. "Bedingungen?"
Eine kalte Hand griff nach Lians Innerstem. Das erste Mal, dass sie etwas spürte, seit sie vor Servar Miths Leichnam gestanden war. Ein Fortschritt?
"Wie kommt Ihr darauf, Majestät, dass ich gekommen bin, um Euch Bedingungen zu stellen?"
"Weswegen seid Ihr dann gekommen?", stieß sie heraus. "Um Euch an meinem Unglück zu weiden?"
Er fegte den Satz mit einem Wink seiner Finger beiseite. Seine Haltung änderte sich, er stand auf, trat durch die Leere auf Lian zu, bis er vor ihr aufragte, sein Gesicht eine Handbreit über ihrem.
"Ich bin gekommen, Ra'athim Lian, um einzufordern, was mir zusteht. Deine Unterwerfung."
Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. "Was verlangt Ihr?"
"Lautet die Frage nicht eher: Was hast du noch zu geben, Ra'athim Lian? Das Wertvollste, das du mir gestohlen hattest, habe ich mir bereits zurückgeholt. Was du jetzt noch tun wirst: du wirst alle Pläne, die mit den Kulten um deine Familie zu tun haben, aufgeben. Sie sterben hier und jetzt und kehren zurück ins Reich des Vergessens, das sie nie hätten verlassen sollen. Der Name deines Vaters mag bleiben, was er ist: ein Märchen für Kinder, ein wunderbarer Spiegel, der zu tausend Scherben zerspringt, sobald man sich selbst darin betrachtet."
"Ich verstehe."
"Des weiteren wird die Familie Ra'athim aus Haus Mora ausscheiden."
"Ausscheiden!" Lians Finger krallten sich in ihre Robe. "Haus Mora verlassen! Das uralte Haus der Königsfamilie!"
"Dir wird keine Wahl bleiben, wenn du deine Familie retten willst. Haus Mora ist dem Untergang geweiht. Es hat uns zu lange Widerstand geleistet. Dass Haus Ra'athim überleben möge, ist der Wunsch meiner geliebten Schwester, dem ich mich füge." Sein Gesicht rückte noch einmal näher. "Haus Ra'athim wird von jetzt an treu zu uns stehen, wird uns anerkennen als das, was wir sind: die Zukunft von Resdayn, die Sehnsucht der Dunmer, und uns alle Liebe entgegen bringen, die es in seinem kristallenen Herzen findet."
Noch einmal regte sich Widerspruch in Lian. "Und was, wenn nicht?"
"So trifft es sich gut, dass die Erbprinzen von Haus Ra'athim mündig sind und damit würdige Ziele für die Klingen der Morag Tong abgeben." Kein Muskel zuckte in seinem zweigeteilten Gesicht. "Ich sagte, ich würde mich dem Wunsch meiner Schwester beugen. Doch nicht endlos. Entscheide dich, Ra'athim Lian. Tu, wie dir befohlen, oder geh unter mit deinem gesamten Haus."
Es war, als habe die Asche der Totenschreine eine Wand rings um Lian errichtet. Sie schloss die Augen. "Ich akzeptiere."
Sie erhielt keine Antwort. Er wartete, bis Lian die Augen wieder öffnete, ehe er seine Lippen auf die ihren presste, kalt und hart, eine flüchtige Inbesitznahme wie vom Messer eines Arztes, sauber und beiläufig brutal. Sie presste die Finger auf den Mund, als er zurücktrat und sich zu grauen Nebelschwaden auflöste, und schmeckte dem Kuss hinterher.
"Muss ich es aussprechen?", fragte Sotha Sil. Vivec lächelte, demütig, für den Moment wieder Schüler vor seinem Lehrer.
"Natürlich nicht. Ich weiß, worum ihr euch sorgt, du und unsere Schwester."
"Ich sorge mich, weil du dir keine Sorgen machst, Junge."
"Das ist nicht wahr, Bruder. Ich teile eure Sorge. Aber waren wir uns nicht einig, dass ich, wenn ich der Verteidiger Resdayns sein will, notwendigerweise die größten Kompromisse würde eingehen müssen?"
"Und bist du nicht gar zu schnell bereit zu Zugeständnissen, Geliebter?" Almalexia strich ihm sanft über das kahle Haupt. Er lächelte.
"Ihr ahnt nicht, wie sehr eure Sorge mich tröstet."
"Sie soll dir nicht Trost sein, sondern Warnung, mein Junge", sagte Sotha Sil. Aber das Lächeln hatte sich bereits fortgepflanzt, und Wärme war in seine Stimme gekrochen wie Gift, das die Strenge zersetzt. Vivecs Lächeln wurde breiter, als er ihn ansah.
"Den ich auf meinen Armen trug,
Weisheit und Liebe,
Sorge und Zuversicht,
Klugheit und Größe,
nun nicht mehr
als Knochen, Haut und verwehender Atem,
das Gewicht der Liebe reduziert
auf das von Blut und Wunden
in den Flammen Ald Sothas.
Der mir Vater war
und Bruder werden sollte.
Nichts fing meine Liebe je
wie die Frage,
ob sein Herz noch schlägt."
Sotha Sil schwieg, unbewegt, dann seufzte er. "Versuch nicht, mich einzulullen, Junge. Und hör' endlich auf mit der Gedichtemacherei, wie oft habe ich dir das schon gesagt."
Das Lachen des zweigeteilten Gottes sang zwischen den nicht vorhandenen Wänden ein Lied von flüssigem Gold.
Epilog
Wieder war sie allein gekommen, doch diesmal erwartete sie nichts mehr von diesem Ort. Die Kerzen blieben erloschen. Servar Miths Asche war mit der ihrer Ahnen vermengt worden; Lian empfand nichts mehr dabei. Wortlos starrte sie in die leeren Höhlen jenes Schädels, der einst die Augen Servar Miths beherbergt hatte.
Er stand so plötzlich neben ihr, dass sie vor Schreck aufschrie. Bekleidet mit einer dunklen Rüstung, die mit der schwarzen Rose Resdayns verziert war, ein Schwert an der Seite, den Mantel über dem Arm.
"Ziemlich vertrackte Lage. Was, Töchterchen?"
Sie konnte nicht antworten, nur nicken. Er tat dasselbe.
"Falls es dich tröstet: es gab nichts, was du hättest tun können. Die Drei sind erst einmal nicht aufzuhalten." Er lachte laut. "Schließlich sind sie Götter."
Sie musste fragen. "Was hättest du getan?"
Er hob die Achseln. "Keine Ahnung. Wahrscheinlich hätte ich mir die Kumpels geschnappt und wäre eine Weile auf Monsterjagd gegangen. Ich meine, was willst du machen? Religion ist ein Labyrinth, schlimmer als die Löcher in einem Valenwälder Schweinekäse." Er lächelte. "Aber nimm es dir nicht zu Herzen, Töchterchen. Unterschätze nie die Segnungen jener Fähigkeit, in der die Sterblichen den Unsterblichen überlegen sind."
"Und welche wäre das?"
"Unsere Winzigkeit, Tochter. Natürlich unsere Winzigkeit. Kann es einen größeren Segen geben als den der Bedeutungslosigkeit? Eine größere Gnade als die, dass unsere Existenz oder Nicht-Existenz im Rad von Aurbis keinen Unterschied macht?" Er zwinkerte ihr zu, während seine Gestalt bereits begann, sich im grauen Zwielicht des Raums aufzulösen. "Eine größere Gnade als die, sagen zu können: was geht's mich an, dann macht doch euren Dreck alleine? Ein Segen, Töchterchen. Eine Gnade. Vergiss es nie."