Kapitel 16: Verrat
Dichter Nebel lag an diesem Morgen über Ald'ruhn, dem Stammsitz des Fürstenhaus Redoran. Außer ein paar Wachmännern war noch keine Menschenseele auf den Straßen der Stadt zu sehen. Nur ein leises Klirren war zu hören. Niemand schenkte diesen Geräusch Bedeutung, doch es sollte an diesem Tag noch entscheidend sein. Das Klirren ging von einer kapuzierten Gestalt aus. Diese schlich von einem Marktstand zum anderen. Ihr Ziel war klar, denn der Kaiserkrebs kam immer näher. Dort lag der Ratssitz der Redorans und somit auch ihr Ratsvorsitzende. Bolvyn Venim war Rethans Ziel. Wieso der junge Dunmer diesen Auftrag angenommen hatte, war ihm schleierhaft. Er schuldete Arara Uvani zwar sein Leben, allerdings war er für sie nur ein Mittel zum Zweck, ein Schwert, dass die Drecksarbeit erledigte.
Und doch war Rethan hier. Vor ihm türmte sich der Kaiserkrebs auf. Eine einsame Wache stand vor dem Eingang. Seltsam, dachte sich Rethan, ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Er schlich aus dem Schatten einer Schmiede in den Nebel hinein. Rethan selbst sah von dem Soldaten nur die Umrisse, dass sollte jedoch genügen. Er legte einen Pfeil in die Sehne seines Bogens und zielte sorgfältig. Rethan ließ den Schaft los, der Pfeil zischte durch die Nebelwand und traf den Wachmann. Ohne ein Geräusch brach dieser zusammen. Der Weg ins Innere war frei.
Die Tür war nicht einmal verschlossen, als Rethan eintrat. Er schlug seine Kapuze zurück und sah sich um. Auch in der Festung waren nur wenige Wachen zu sehen, die leicht zu umgehen waren. Alles roch nach einer Falle. Allerdings war sich Rethan sicher, dass er es mit seinen Gegnern aufnehmen konnte. Egal wie viele es waren. Also beschloss der Dunmer, in die Falle zu tappen. Er wollte die Anstrengungen ja nicht ruinieren, die extra wegen ihm unternommen wurden. Leichtfüßig glitt er eine Strickleiter hinab auf den Grund des Kaiserkrebs. Von dort musste er die Festung durchqueren und auf der anderen Seite wieder nach oben steigen. Der Weg dorthin bot dem Assassinen mehr als genug Verstecke. Es sollte keine Schwierigkeiten geben, die wenigen Soldaten der Redorans zu umgehen.
Und tatsächlich: Souverän und ohne aufzufallen erreichte Shedoran Rethan die andere Seite. Geschwind kletterte er eine weitere Leiter hinauf. Vorsichtig lugte Rethan über den Rand der Brücke. Er wollte nicht in einen Wachmann reinlaufen. Als er sich sicher war, dass die Luft rein war, schwang er sich hinauf und hastete zum Eingang von Venims Haus.
Auch dieses Tür war unversperrt. Rethan fragte sich, was ihm wohl erwarten würde. Die ganze Sache war irgendwie faul. Die Falle war viel zu offensichtlich. Selbst ein Ork hätte erkannt, dass etwas nicht stimmte. Hielten ihn seine Feinde für so dumm? Oder steckte etwas anderes dahinter? Hatte Arara ihre Kontakte genutzt, um ihm den Weg freizuräumen?
Für große Gedanken war jetzt wirklich kein geeigneter Zeitpunkt, also schlich Rethan tiefer in das Haus hinein. Wie erwartet, stieß er auch hier auf wenig Sicherheitsmaßnahmen. Keine Fallseile, keine Wachen, nicht mal Wachhunde. Nur ein Diener lief durch den Gang, der zu Venims Schlafzimmer führte. Langsam wurde Rethan die Sache zu bunt: er griff den Khajiit am Kragen, zog ihn in einen Lagerraum und verschloss die Tür dann hinter sich. Er legte der Katze seinen Dolch auf die Kehle und flüsterte: "Was geht hier vor? Wo sind die Wachen?" Verängstigt sah der Diener Rethan an, sagte aber nichts. Rethan bohrte die Spitze seiner Waffe vorsichtig in den Hals des Khajiit, gerade so weit, dass die Wunde anfing zu bluten. Jetzt begann er zu zittern. "Ich...ich", stotterte die Katze, "ich weiß nicht. Lord Venim hat die Wachen weggeschickt. Er hat gesagt, wir sollten uns keine Sorgen machen. Nur Lady Ayala Helos ist mit Lord Bolvyn geblieben."
Rethan lief es eiskalt den Rücken herunter. Er kannte den Namen Ayala Helos. Er wusste, dass sie die Vollstreckerin der Redorans war und jede Befehl ohne Gnade und ohne Fragen zu stellen ausführte. Es gab Gerüchte, sie würde die Herzen ihrer Opfer verspeisen, um deren Lebenskraft in sich aufzunehmen. Rethan hielt das für Geschwätz, doch im Moment wurde ihm bei dem Gedanken an diese Frau und die Geschichten, die sie umgaben, richtig unangenehm. Er musste wohl gegen sie kämpfen, um an Venim heranzukommen. Vergiss Venim!, dachte sich der Dunmer, du musst verschwinden, solange du noch lebst.
Rethan stach dem Khajiit-Diener seinen Dolch in den Hals, bevor er sich zum Gehen wandte. Gurgelnd brach die Katze zusammen. Schnellen Schrittes kehrte der Assassine zur Tür des Anwesens zurück. Erschrocken musste er feststellen, dass die Tür nun versperrt war. Seine Dietrich konnte ihm jetzt auch nicht helfen, da eine magische Barriere den Ausgang umgab. Rethan war gefangen. Er musste so schnell wie möglich einen anderen Ausweg finden. Nach einem Kampf mit Ayala stand dem Dunmer nämlich überhaupt nicht der Sinn. Ihm war sein Kopf lieb wo er war: auf seinem Hals.
Eilig entfernte sich Rethan wieder vom Eingang. Er öffnete einige Türen, blickte aber immer nur in Schlafzimmer, die Küche und Lagerräume. Es schien so, als würde es nur einen Eingang geben. Fieberhaft dachte Rethan nach. Es musste einfach noch einen anderen Ausweg geben. Vielleicht einen geheimen Fluchttunnel. Und der wäre dann in Venims Privatgemächern. Rethan hatte zwar die Pläne des Anwesens studiert, ein geheimer Fluchtweg für den Ratsvorsitzenden war jedoch nicht verzeichnet gewesen. Es war aber sogar sinnvoll, so etwas nicht auf Pergament zu bannen. Die Adligen wollten ja entkommen und nicht den feindlichen Truppen in die Arme laufen.
Da Shedoran den Aufbau des Hauses kannte, fand er auch schnell zu Venims Gemächern. Erwartunsvoll drückte er die Klinke nach unten, lehnte sich gegen die Tür und...nichts. Sie war verschlossen. Zornig schlug der Dunmer gegen das Holz. "Verdammt!" Langsam aber sicher gingen Rethan die Optionen aus. Ein Kampf mit Ayala schien unausweichlich. "Sieht aus, als wäre es für Euch hier zu Ende", hörte er eine Stimme hinter sich sagen. Rethan lief es eiskalt den Rücken hinunter. Langsam drehte er sich um. Am Fuße der Treppe erblickte Shedoran Rethan eine Dunmer-Frau in voller Kampfmontur. Ihr Schwert hatte sie gezogen und hielt es locker in der gesenkten Hand. "Ser Rethan", begann sie mit einem kalten Lächeln, "ich habe schon einiges über Euch gehört. Eure Fähigkeiten sollen sehr beeindruckend sein. Für einen Frischling, der gerade eben seine ersten Aufträge erfüllt, meine ich."
Shedoran Rethan blickte Ayala Helos direkt an. Der Dunmer nahm allen Mut zusammen und gab sich betont lässig: "Lady Ayala. Es ist mir eine Ehre, Euch endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Auch ich habe bereits Geschichten gehört. Natürlich waren die meisten nicht besonders schmeichelhaft. Man erzählt sich, Ihr verspeist die Gedärme Eurer Opfer. Das finde ich ein wenig ungesund, wenn Ihr mich fragt." Rethan zog jetzt auch sein Schwert und schlenderte in die Mitte der Treppe.
Ayalas Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen. Der Junge war gelassener als sie erwartet hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er auf Knien um sein Leben flehen würde. Aber dieser Rethan schien sich von ihr nicht beeindrucken zu lassen. Hier würde für die meisten die Beweisführung enden. Jedoch nicht für Ayala: sie konnte die Angst von Shedoran Rethan fast schmecken. Und dennoch, trotz seiner Angst stellte er sich ihr entgegen. Das verdiente Respekt.
"Tratschen ist eine Sünde, junger Assassine", gab Ayala zurück und begann, die Treppe hinauf zu steigen. "Ihr dürft nicht alles glauben, was sich das Fußvolk so erzählt." Rethan wich mit jedem Schritt, den Ayala nach oben machte, einen Schritt nach hinten zurück. Er wusste, dass sie die erfahrenere Kämpferin war. Das war Indarys jedoch auch. Alles, was er brauchte, war ein Vorteil. Eine Schwachstelle Ayalas. Irgendwas. Sonst würde Rethan hier sein Leben verlieren.
"Ah!" Rethan war mit dem Rücken an die Wand gestoßen. Ayala stand lächelnd vor ihm. "Kein Ausweg für Euch, Assassine! Ihr werdet dafür büßen, dass Ihr Banden Indarys auf dem Gewissen habt!" Die Frau hob ihr Schild und das Schwert. Auch Rethan ging in Kampfstellung, obwohl er noch keinen Plan hatte, wie er das lebend überstehen wollte. Ein Schrei riss den jungen Dunmer aus seinen Gedanke: Ayala ging zum Angriff über. Sie stürtze sich auf Rethan, der sich gerade noch unter dem Schwert hindurch ducken konnte, das auf sein Gesicht zuzischte.
Krachend bohrte sich die Klinge in das Holz der Türe. Wütend zog Ayala am Schwert. Es rührte sich nicht. Sie war jetzt unbewaffnet. Nun war es Rethan, der lächelte. Er hub mit seinem eigenen Schwert nach Ayala. Doch die hatte immer noch ihren Schild. Ohne große Anstrengung wehrte sich Rethans Schläge ab. "Ist das alles, was Ihr draufhabt?", spottete die Redoran-Vollstreckerin. Rethan ließ sich von ihren Sprüchen nicht aus dem Konzept bringen. Als der Assassine nach Ayalas Kopf stieß, geschah es: die Dunmerin drehte sich zur Seite und schlug mit ihrem Schild nach Rethans Hand. Und sie traf.
Der Arm von Rethan wurde ruckartig nach oben geworfen. Durch die Wucht des Angriffs entglitt das Schwert seiner Hand. Surrend flog die Klinge durch die Luft. Mit einem Scheppern landete seine Waffe am Fuße der Treppe. Rethan stieß einen Fluch aus. Jetzt war wieder alles offen. Ayala grinste breit und warf ihren Schild weg. Sie hob ihre Fäuste und sagte dann zu Rethan: "Scheint so, als müssten wir die Sache auf die altmodische Art zu Ende bringen." Shedoran Rethan blickte Ayalas gepanzerten Handschuhe an. Dann schaute er zu seinen Fäusten, die in einfachen Lederhandschuhen steckten. Ayalas Schläge würde auf jeden Fall mehr schmerzen. Rethan wollte ihr aber nicht die Chance geben, ihn zu treffen.
"Wie Ihr wollt." Rethan hob die Fäuste. Wie schon zuvor, ging Ayala zuerst zum Angriff über. Der Assassine hatte alle Hände damit zutun, die Schläge der Frau abzuwehren. Endlich gelang es Rethan zu kontern. Er schlug Ayalas Faust zur Seite und ließ seine eigene Hand in ihr Gesicht knallen. Sie taumelte unter der Wucht des Schlages zurück. Blut lief Ayala aus der Nase. "Wie könnt Ihr es wagen?", fauchte sie.
Zornig griff Ayala den jungen Dunmer an. Sie packte ihn am Kragen, hob ihn hoch und warf ihn in eine Kommode. Das Holz zerbarst unter Rethans Gewicht. Dieser musste Blut spucken. Mit einem triumphierenden Grinsen kam Ayala näher. "Das ist Euer Ende, Mörder!" Sie hob ihren gepanzerten Fuß und wollte damit Rethans Kopf zerquetschen. Doch als sie zutrat, war Rethan schneller: Er rollte sich zur Seite. Zuvor zog er aus einer Scheide am Stiefel ein Messer. Blitzschnell war der Meuchelmörder wieder auf den Beinen.
Rethan sprang Ayala mit dem Messer in der Hand an. Die beiden Dunmer fielen in einem Gewirr aus Armen und Beinen auf den Boden. Letztendlich gewann Rethan die Oberhand. Grinsend saß der junge Assassine auf Ayala. "Na, das ist doch einmal eine angenehme Position, findet Ihr nicht, Lady Ayala?" Das Gesicht der Redoran-Vollstreckerin verzog sich vor Wut: "Kommt nicht auf blöde Gedanken, Abschaum." Shedoran Rethan musste lachen. Es gefiel ihm, wie sich die Lage gedreht hatte. Langsam beugte er sich über Ayala, sodass sein Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt war. Ayala starrte ihm direkt in die Augen. "Versucht es", zischte sie, "und ich beiße Euch die Zunge ab." Wieder musste Rethan lachen: "Achja? Das Risiko gehe ich ein."
Ohne weitere Vorwarnungen presste Rethan seine Lippen auf Ayalas. Sie wehrte sich. Zunächst. Als er aber seinen Mund öffnete, gab sie nach. Seine Zunge glitt in ihren Mund und fand einen willigen Gegenpart. Der Kuss dauerte einige Sekunden. Dann ließ Rethan wieder von Ayala ab. Sie schnappte nach Luft, er setzte ein triumphierendes Lächeln auf. "Hmm, wie ich sehe, habe ich meine Zunge behalten. Und es schien Euch gefallen haben, nicht wahr, Lady Ayala?" Sie spie aus. Erneut lachte der Assassine: "Ein Wildfang. Das gefällt mir. Nun sagt, M'lady, wer hat Euch erzählt, dass ich komme?"
Ayala blickte zur Seite. Sie hatte nicht vor diesem verdammten Meuchelmörder irgendetwas zu verraten. Aber er war so charmant...Plötzlich spürrte sie kalten Stahl an ihrer Wange. Sie blickte wieder zu Rethan. Das Messer strich sanft über ihre Haut, aber dennoch kräftig genug, damit Blut floss. "Verratet es mir", wiederholte sich Rethan, dieses Mal einige Stufen kälter. Ayala schluckte. Wenn sie schwieg, würde sie sterben. Wenn sie plauderte, würde sie Rethan vielleicht verschonen und dann Arara Uvulas töten.
Sie seufzte. "Gut. Eine Telvanni-Sprecherin namens Arara Uvulas gab uns den Tipp, dass jemand ein Attentat auf Ratsvorsitzenden Venim plant." Auf Rethans Gesicht breitete sich Entsetzen aus. "Oh?", machte Ayala, "Ihr kennt sie?" Die Redoran lächelte. "Interessant. Sie hat Euch also hierher in die Falle gelockt. Und Ihr wart so dumm hinein zu treten? Hahaha." Jetzt wurde Rethan zornig: "Schweigt! Ihr wisst gar nichts!" Rethan ließ das Messer an Ayalas Kehle wandern. "Lasst mich gehen!"
Ohne weitere Worte zu verlieren, schlitzte Rethan Ayala den Hals auf. Dunkelrotes Blut strömte aus der Wunde, die Dunmerin begann zu grugeln. Der Assassine blieb noch solange auf ihr sitzen, bis er sich sicher war, dass sie ganz sicher tot war. Dann durchsuchte er ihre Leiche. Als er den Schlüssel gefunden hatte, machte er sich zu seinem nächsten Ziel auf: Sadrith Mora.