Anmerkung des Bibliothekars: Die überlieferten Erzählungen von Kieran dem Barden fallen in drei Kategorien: den Waldland-Zyklus, Schlösser und Könige und einen unbenannten Zyklus frivoler Geschichten (kürzlich bei einem mysteriösen Zwischenfall zerstört). Einige sind im Besitz des Barden selbst, während andere, bloße Schatten der Originale, nur noch als Gutenachtgeschichten für Kinder fortbestehen. Die Struktur dient als Beispiel für die schneckenförmige Form, wie sie von Zuhörern am Herdfeuer in langen Winterabenden bevorzugt wird. Ob sie wahre Begebenheiten beschreiben, Allegorien sind oder bloß unterhaltsame Phantasien darstellen, muss der Leser selbst entscheiden.
Kieran reiste auf der Straße von Wren nach Schönbaum, als er der Mittagssonne überdrüssig wurde. Seine Stiefel drückten und er beschloss, sie im Schatten einer nahen Eiche (Eichen sind die Lieblingsbäume der Barden) ein wenig auszuziehen. Diese bestimmte Eiche war ehrwürdig und knorrig, mit kräftigen Zweigen, die teilweise bis zum Boden reichten. Von seinem schattigen Plätzchen aus beobachtete Kieran die Waldtiere beim Spielen in der warmen Sonne. Bis auf das Rauschen der Blätter hoch über ihm waren nur das Flattern der Schmetterlinge und der Gesang der Vögel zu hören.
„Was für ein friedlicher Tag“, dachte Kieran, als er einen Schmetterling vorbeiflattern sah. „Was für ein schöner Tag! Wahrlich, gab es jemals einen friedvolleren und schöneren Tag als diesen, seit die Barden die ersten Geschichten erzählten?“
Er trank einen Schluck aus seinem Wasserschlauch, nahm seine Laute aus ihrer Lederhülle, räusperte sich und begann zu singen:
- „Oh, die Jungfrauen von Glaubensbrück geh'n so wunderbar …
- ... mit Brüsten, melonengleich, und flachsblondem Haar ...“
Er holte gerade tief Luft, um den zünftigen Refrain zu grölen, als eine schwache, weibliche Stimme sagte: „Guter Herr ...“
Er sprang mit flammendrotem Gesicht auf seine bestrumpften Füße: „Wer ist da?“, rief er.
Die schwache Stimme antwortete: „Bitte, Herr, wenn Ihr so freundlich wärt …“
Kieran blickte sich um, sah aber keine Person oder Kreatur, die ihn angesprochen hatte.
„Ich bitte dich”, rief er, „zeig dich oder du sollst Anlass haben, meinen Dolch zu fürchten.“ (Er versuchte verzweifelt sich zu erinnern, wo er ihn zuletzt gesehen hatte). „Gleich, ob du Freund oder Feind bist, so beschwöre ich dich, jetzt dich selbst zu zeigen!”
Die schwache Stimme antwortete von über ihm: „Lieber Herr, du hast keinen Grund, mich zu fürchten und ich brauche Hilfe. Kannst du sie in deinem Herzen finden, um mir beizustehen?“
Er blickte nach oben und sah nichts als drei Äste über ihm ein kleines Rotkehlchennest. Geschickt kletterte er nach oben, wo er ein Rotkehlchen mit drei Küken fand, die ihre Schnäbel weit aufrissen.
„Gute Mutter Rotkehlchen“, fragte er, „kannst du es gewesen sein, die mich solcherart angeredet hat?“
„Lieber Herr“, antwortete sie, „ich habe mir den Flügel verletzt und es wird mindestens einen Tag dauern, bis ich wieder fliegen kann. Wenn meine Kinder nicht bald essen, werden sie sterben. Ob du so freundlich wärest, uns ein fettes, saftiges Mahl zu bringen? Würdest du eine Raupe, einen Regenwurm oder eine Made für meine Kinder suchen?“
Nun, Kieran besaß ein großes Herz und zögerte keinen Moment, dieser Bitte nachzukommen, also ging er in den Wald. Unter einigen Maulbeersträuchern fand er bald eine kleine grüne Raupe. Sie schien ein perfektes Mahl für junge Rotkehlchen abzugeben.
Er pflückte die Raupe von dem Blatt, auf dem sie fraß, und wollte eben zurück zur Eiche eilen, als er eine sehr leise Stimme hörte. Er öffnete seine Hand und die Raupe blickte zu ihm auf, ihre großen, braunen Augen vor Angst geweitet. „Lieber Herr“, sagte sie, „würdest du mich so leichtfertig töten?“
Kieran kratzte sich verwirrt den Kopf und die Raupe fuhr fort: „Als du deine Füße unter der Eiche ausgeruht hast, hast du da keine Freude an der Schönheit meiner Eltern gefunden, wie sie vor dir in der Sonne tanzten? Auch ich werde mich bald verwandeln. Würdest du deinen Erben die Freude meines Tanzes versagen? Und wenn ich nicht lebe, um Kinder zu haben, wie sollen dann deine eigenen Kinder solche Freude finden? Bitte, Herr, würde den Rothkehlen nicht ein Regenwurm ebenso genügen?
Kieran blickte der Raupe in die Augen und wusste, dass er sie nicht an die Vögel verfüttern konnte. Vorsichtig legte er sie unter ihren Maulbeerstrauch und setzte seine Suche fort.
Am Ufer eines rauschenden Flusses fand Kieran einen flachen Stein, unter dem er einen saftigen Regenwurm fand, der sich an der kühlen, feuchten Erde erquickte. „Aha!“, dachte er. „So lecker die Raupe gewesen wäre, dies scheint ein weit besseres Mahl für die jungen Kehlchen zu sein.“
Er hatte den Regenwurm gerade aus seiner kühlen Behausung gezogen (wo dieser verzweifelt versucht hatte, sich in Sicherheit zu graben), als er eine Stimme hörte, so schwach, dass er sie sich vielleicht eingebildet haben mochte.
„Lieber Herr“, glaubte er zu hören und sah auf seine Hand. Der Wurm sprach weiter: „Ich bin nur eine niedere Kreatur, das stimmt, doch darf ich einen Wunsch vortragen?“
Kieran verdrehte die Augen, als der Wurm sich aufsetzte und seine Chance ergriff. „Ich bin kein niedergeborener Wurm wie andere, die Ihr finden mögt. Nein, ich bin ein Fürst unter den Regenwürmern. Ich stamme aus einem uralten Geschlecht. Meine Vorfahren durchgruben schon die Erde, als noch im ganzen Land Feuer aus schwarzen Gruben loderten. Ich befehlige Millionen meiner Art. Gäbe es meine treuen Gefolgsleute nicht, so stündet Ihr, guter Herr, nun bis zum Hals in Blättern, Baumstämmen und fauligen Kadavern. Wenn Ihr an meiner statt eine erbärmliche Made für die Rothkehlen nehmt, werde ich einen ganzen Regenwurmstamm entsenden, Euren Vorgarten sauber und wohlriechend zu halten, solange Ihr lebt.“ Der Regenwurm blickte hoffnungsvoll auf Kieran (während er die Distanz zum Boden abschätzte). „Was sagst du, guter Herr?“
Kieran verlor langsam die Geduld, doch angesichts des wertvollen Angebots des Regenwurms beschloss er, dass eine Made tatsächlich ein leckerer Happen für die jungen Rotkehlchen wäre. Er setzte den Regenwurm in seine erdfeuchte Zuflucht zurück und legte vorsichtig wieder den flachen Stein über ihn. Und ganz nach seinem Wunsch fand Kieran auf einer Waldwiese unter einem großen Stück Rinde genau das, wonach er suchte: eine fette, weiße Made, welche die Küken zu stattlichen Sängern heranwachsen lassen würde. Er nahm sie aus ihrem Versteck und machte sich auf den Weg. Es war wirklich ein wunderschöner Tag.
In der Nähe, im prächtigen Glaubensbrück, lebte König Caladan mit seiner lieblichen Tochter Einlea. Die Prinzessin war der Augapfel des alten Mannes und das Kronjuwel seines kleinen Königreichs. Er sah sie mit dem blinden Stolz eines vernarrten Vaters an, und sie selbst tat nichts, als sich in seiner Großzügigkeit zu sonnen und zu gedeihen.
Glaubensbrück war nun still, die Hauptgeräusche waren das Klappern der Wagenräder und die Schreie der Straßenhändler, aber das war nicht immer so gewesen. Drei Jahre zuvor hatte es Ärger mit Carthan im Westen gegeben. Es war keine große Sache, nur eine Grenzstreitigkeit, aber der König überzeugte einen Zauberer namens Loziard, ihm in der Auseinandersetzung zu helfen. Loziard war allen in Glaubensbrück unbekannt und hielt sich im Palast auf, wo er kam und ging, wie es ihm beliebte. Als Glaubensbrück nahezu ohne Verluste siegte, wurde die nächsten Tage und Wochen ausgelassen gefeiert. Die Zeit verging, doch Loziard blieb. Der König wollte nicht undankbar erscheinen und sagte nichts, doch er fühlte sich zunehmend unwohler angesichts der Anwesenheit des Zauberers und wünschte sich dessen Abreise.
Für Einleas zwanzigsten Geburtstag rief König Caladan ein Fest und einen Feiertag für das ganze Land aus. Seine Untertanen wussten nicht, dass er abzudanken und die Krone an seine wunderschöne Tochter weiterzugeben gedachte. Aus reiner Höflichkeit lud er den Zauberer dazu ein, ihm bei der Ausarbeitung einer geeigneten Rede zu helfen.
Loziard war wütend. Er stapfte in seinem Zimmer auf und ab, seine dunklen Brauen standen so eng beeinander, dass sie Milch sauer gemacht hätten. „Warum“, schrie er auf, „werde ich von diesem alten Witzbold so ungerecht behandelt? Ohne meine Fähigkeiten wäre der Grenzstreit, vielleicht sogar das ganze Königreich verloren gewesen. Ich verdiene mehr, ich verdiene die Krone. Sie seiner herausgeputzten, albernen Tochter zu geben, die an nichts anderes als ihr eigenes Vergnügen denkt, ist ein stärkerer Schlag ins Gesicht als mit einem Panzerhandschuh. Ich fordere Gerechtigkeit. Ich werde ihnen zur Genüge und für alle zu sehen demonstrieren, worin die wahre Macht liegt.“
Daraufhin traf Loziard seine Vorbereitungen.
Prinzessin Einleas Geburtstag kam an einem Sommermorgen. Jeder in der Stadt und von den umliegenden Höfen begab sich zum Palast, um an dem Fest teilzunehmen. Banner wehten von jedem Dach. Fiedler fiedelten und Tänzer tanzten. Bäcker buken wundervolle Süßigkeiten für den Anlass. Es war ein Tag, der lange in Erinnerung bleiben sollte.
Genau zur Mittagsstunde traten König Caladan und Prinzessin Einlea auf den großen Balkon, um die Huldigungen des Volkes entgegenzunehmen. „Gute Bürger von Glaubensbrück“, sprach der König, „wir sind nur ein kleines Königreich, aber wir gedeihen, oder?“
Laute Heilrufe (hauptsächlich) erschallten aus der Menge unten. Ermutigt fuhr Caladan fort: „Doch nun bin ich ein alter Mann. Der Tag ist gekommen, an dem sich jüngeres Blut der Bedürfnisse und Nöte des Königreichs besser annehmen kann. Meine Untertanen ... meine treuen Untertanen und Freunde ... mit Ehre ... und Stolz ... und den größten Erwartungen ... übergebe ich mein Königreich und meine Krone meiner allerliebsten Tochter. So präsentiere ich Euch“ (eine lange Pause) „Einleia.“
Als der Jubel die Luft erfüllte, tat Caladan eine große, ausladende Geste mit seinem Arm, um die Vorstellung so atemberaubend zu machen wie den Stolz, der ihn erfüllte. Seine Gewand machte „wusssscccch“ und seine Hand fand ... niemanden. Was war das? Wo ist sie hin? Wo eben noch Einlea gestanden hatte, war nun nichts als leere Luft.
„Äh ... Einlea ...?“, rief er, verunsichert. Doch es kam keine Antwort. Stille senkte sich über den Park und Innenhof. Die Leute schauten einander nervös an.
Der alte Loziard klatschte freudig in die Hände. Er tanzte. Er umarmte sich selbst, unbeherrscht lachend. „Wie wunderbar ...“, schrie er, „Was für ein atemberaubend genialer und talentierter Zauberer ich bin!“ Denn was er getan hatte war natürlich, sich Einleas ein für allemal zu entledigen. Mit einem abgefeimten und bösen Streich hatte er das eitle Geschöpf aus dem Palast entfernt. Nichts mehr stand zwischen ihm und dem, was er begehrte.
Magie ist nun aber eine komplizierte Sache. Wie alle Kräfte in der Welt muss sie im Gleichgewicht gehalten werden. So sicher, wie der Tag die Nacht und Sommer den Winter ausgleicht, muss positive Magie negativer die Waage halten. Für jeden verletzenden oder zerstörerischen Zauber muss es eine Tat ebensolcher Güte oder Wohltätigkeit geben, damit Schwierigkeiten nicht die Welt überfluten. Auf jeden Schwarzmagier muss ein weißer kommen. Auf jeden Zauber der Kampfzerstörung einer der Heilung. Weißt du ... wenn alle, die Magie praktizierten, nichts als Heil- oder Schutzzauber wirkten, so würden dunkle, schreckliche Kräfte zunehmen, bis Chaos und Ruin hervorbrächen und den Untergang auf uns niedergehen ließen. Heilzauber mögen so durch Gewalt gebrochen werden und die schlimmsten Zauber durch gute Taten.
Mit der Kenntnis darüber plante Loziard seinen Racheakt gut. Um sich dauerhaft von Einlea zu befreien (statt sie geradeheraus zu töten), musste er einen so durchtriebenen Zauber wirken, dass ihn keine freundliche Tat jemals brechen könnte. Er entlauste seinen langen Bart, als er eines späten Abends in lautes Gelächter ausbrach. Er würde sie in etwas ... abscheuliches verwandeln.
„Ich mache einen Frosch aus ihr.“ Er lachte, dann runzelte er die Stirn. Nein ... das hatte es schon gegeben. Die Leute erwarteten es vielleicht und wanderten wie hirnlose Idioten auf der Suche nach Fröschen umher, um sich das Lösegeld eines Königs zu verdienen. Und dann erschloss sich ihm ein brillianter Plan.
„Ich werde sie in einen Käfer verwandeln, ein Insekt, einen WURM ...“ Er verschluckte sich beinahe an seinem Wein. „Oh, wie perfekt. Ich werde sie in etwas so abscheuliches verwandeln, dass sie den Rest ihres Käferlebens in der Angst verbringt, von der ersten Person zerquetscht zu werden, die sie sieht.“ Er kreischte, seine Ringe klimperten, sein Fett wabbelte und vor Lachen schoss ihm Wein aus der Nase. „Oh, wie herrlich köstlich...“
Und genau das tat er. Während sich König Caladan und seine Untertanen ihre Köpfe vor Verwirrung kratzten, sah niemand eine kleine, fette weiße Baummade auf die Pflastersteine unter dem Hauptbalkon fallen und sich sofort, glänzend und zitternd, zusammenrollen.
Einlea überkam die Panik. Was war passiert? Nun, sie hatte bereits genug von Loziards Magie gesehen, um zu wissen, was passiert war. Aber warum? Warum sollte er ihr das antun? Sie hatte nicht lange, um über diese Frage nachzudenken. Ein großer schwarzer Hund, hunderte Male so groß wie sie selbst, lief auf den Pflasterstein zu, auf dem sie lag, und beinahe verschluckte er sie mit einem einzigen Zungenschlabbern. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich herumzurollen und in der Spalte zwischen den Steinen zu verschwinden. Seine RIESIGE feuchte Zunge folgte ihr, geiferte und hechelte große Wirbelstürme heißer Luft auf sie herab. Doch gerade als die Zunge kurz davor war, sie in den wartenden Magen zu befördern, riss der Besitzer des Hundes an seiner massiven Kette und zog das Tier heimwärts.
Es ist wahr, dass Einlea in ihrem Leben als Mensch geschwelgt und nicht zu Arbeit oder Mühen geneigt hatte, aber das lag bloß daran, weil sie nichts davon nötig gehabt hatte. In den folgenden Tagen hatte sie allen Grund, genug von beidem in sich zu entdecken. Nach dem Zwischenfall mit dem Hund wusste sie, dass sie weit fort von Menschen und Hunden gehen musste. Und sie wusste auch, welche Art Geschöpfe sich von Maden ernährten. Sie schlief außer Sicht unter Blättern an Stellen, wo man gewöhnlich nicht nach Maden suchen würde.
Aber auch so waren Einleas Tage voller Schrecken und Abenteuer. Tagsüber kreisten Habichte, abends die Eulen. Ein Bär, der einen verrotteten Baumstumpf aufbrach, fraß hunderte Maden, ununterscheidbar von Einlea, während sie dem furchtbaren Geschehen hinter einem nahen Felsen versteckt zusah. Das kleinste Rinnsal war nun ein gewaltiges, schäumendes Hindernis, das nur mit höchstem Risiko in einer Nussschale überwunden werden konnte. Einlea bestand diese Prüfungen, neben mit vielen anderen, und sie bestand sie gut.
An ihrem zehnten Tag geschah es, dass ein klobiger Stiefel das Stück Rinde beiseite stieß, unter dem sie Schutz vor der Sonne gesucht hatte. Vom Sonnenlicht geblendet, hörte sie einen Ausruf von hoch oben. Noch bevor sie reagieren konnte, stießen zwei Finger vom Himmel auf sie herab, schnappten sie legten sie fest in einer riesigen Faust ab.
Zehn Tage früher wäre Einlea vor Schreck erstarrt. Doch das war vor zehn Tagen. Ihr Vestand raste. „Wer ist dieser ungehobelte Idiot eigentlich??“, fragte sie sich. „Und was zur Hölle macht er mit einer Baummade? Wenigstens hat er mich nicht direkt zerquetscht. Das gibt Hoffnung, oder? Also muss er hier sein, um mich zu retten ...“
Sie drehte und wand sich in der Faust, bis sie zwischen zwei Fingern hoch über ihr sein Gesicht sehen konnte. „Uh, ein Barde. Wenn ich schon gerettet werde, warum kann es nicht ein hübscher junger Prinz sein?“ Doch dann geschah es, dass sie wieder nach alter Gewohnheit sprach „Ich frage mich, wie viele von diesen jungen Gecken die letzten zehn Tage überlebt hätten?“ Sie lachte, als sie an sie dachte. „Nicht viele, wette ich. Diejenigen, die sich nicht zusammengerollt hätten und unmittelbar gestorben würden spätestens jetzt nach ihren Müttern winseln und weinen.“ Sie sah Kieran erneut an. „Nun ... vielleicht sieht er besser aus, wenn ich ihm nicht gerade in die Nasenlöcher schaue. Aua ... warum ist er mit mir nicht vorsichtiger??“
Und dann fiel ihr ein, dass dieser Dummkopf, wenn er sie denn wirklich retten wollte, wohl etwas zu ihr gesagt hätte.
„Oh-oh.“ Einlea's Herz raste und sie wand sich heftigst, malte sich den schlimmsten aller Tode aus. „Er geht wohl angeln.“
Einlea konnte in ihrer momentanen Lage nicht viel tun, doch sie konnte spucken. Und sie spuckte. In unvorstellbaren Mengen für eine so kleine Made Sie spuckte, spuckte und spuckte, bis ihr winziger Mund zu trocken war, um noch einen einzigen Tropfen zu spucken. Sie fühlte, wie sich Kierans Griff lockerte und dachte: „Es funktioniert.“
Kieran war ziemlich angewidert. Es war schon schlimm genug, dass er dieses schleimige Ding berühren musste, doch nun schied es etwas aus und wurde ganz schön widerspenstig. Kurz bevor er die Eiche der Rotkehlchen erreichte konnte er es schließlich nicht länger ertragen. Er blieb stehen und betrachtete das Geschöpf in seiner Hand. Weiß und fett und glänzend war es, wirklich abstoßend. Aber dieses arme Ding war augenscheinlich verängstigt. Es starrte mit etwas, das er sich als winzige Madenaugen vorstellte, flehentlich zu ihm empor. Kieran dachte an die Raupe und den Regenwurm, und sein Herz regte sich. Mit einem tiefen, resignierten Seufzer fand er eine schöne, saubere Wurzel und setzte die Made darauf ab. Und dadurch wurde Loziards Zauber gebrochen.
Niemand konnte überraschter sein Einlea, als sie urplötzlich wieder zu ihrer vorherige Größe heranwuchs, ausgenommen vielleicht Kieran, der vor Schreck beinahe starb. Er versuchte noch immer, zu Atem zu kommen, als Einlea ihre Sinne wieder beisammen hatte. Sie hob ihren Zeigefinger, warnte Kieran, nicht auch nur EIN Wort zu sagen und schnappte sich Kierans Mantel, um sich zu bedecken. Dann, mit Feuer in den Augen und so viel Würde, wie sie eben aufbrachte, machte sie sich auf nach Glaubensbrück und ließ Kieran stehen, der ihr mit offenem Mund nachschaute.
Einlea wusste, dass sie nicht einfach in die Stadt gehen und Loziard stellen konnte. Sobald er sie sähe, würde er einen anderen Zauber auf sie wirken. Als Hirtin verkleidet fand sie eine verlassene Hütte in den Mooren und begann, ihre Pläne zu schmieden. Was als nächstes geschah, ist es wert, gehört zu werden. Doch dies ist eine Geschichte für einen anderen Abend. Es ist sogar eine Geschichte, die über viele Abende und viele gute Krüge Bier erzählt werden muss.
Und was geschah mit den Rotkehlchenküken? Ohne eine Alternative kletterte Kieran auf den Baum und holte sein letztes, fettes Stück Hammelfleisch aus seinem Bündel. In kleine Stückchen gerissen gab er es der dankbaren Rothkehlchenmutter, die es an ihre Kinder verfütterte.
Als er wieder auf festem Boden stand, blickte Kieran zunächst Richtung Schönbaum, seinem vorherigen Ziel, und ging dann grinsend der überraschenden jungen Dame nach, an die er noch viele Fragen hatte. „Wer weiß ...“, rief er den Rotkehlchen zu, „vielleicht war es Schicksal. Und davon abgesehen brauche ich meinen Mantel.“
Man hörte, wie er spät an diesem Abend die Straße hinunterzog und sang:
- „Oh, die Jungfrauen von Glaubensbrück geh'n so wunderbar …
- ... mit Brüsten, melonengleich, und flachsblondem Haar ...“