Und wir? In Deutschland? Thüringen?
Die Rechten lassen Grüßen! Ein netter Schachzug, jemanden eine Wahl wegen der AfD gewinnen zu lassen. Jetzt werden nur noch machtbesessene Politiker gesucht, ein Moment wo nicht aufgepasst wird und wir haben ein neues 1933!
Ich sehe das mit Sorge! Sehr großer Sorge.
Ein neues 33 oder wenigstens den historischen 05.02, den viele in den Raum stellen, sehe ich nicht. Es ist Reihe problematischer Umstände, die zu einer Kette von Entscheidungen geführt haben, die jetzt alle prinzipiell regierungsfähigen Parteien (also alle im Thüringer Landtag vertretenen Parteien außer der Flügel-AfD) vorgeführt haben. Ich persönlich sehe zwei Hauptprobleme, die Grundlage für die jetzige Situation sind. Sehen wir uns dazu erst mal die Sitzverteilung an.
- Rot-Rot-Grün, die vorige Regierungskoalition, kommt nur noch auf 42 Sitze. Damit wäre eine Fortführung der vorigen Koalition als Minderheitsregierung auf mindestens vier Unterstützer aus den anderen Parteien angewiesen, um Beschlüsse fassen zu können.
- Die Opposition besteht dann aus AfD, CDU und FDP. AfD ist Fundamentalopposition.
- Alle anderen Parteien weigern sich (zurecht), mit dieser AfD zu kooperieren.
- CDU hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Linken. Die FDP hat das meines Wissens nicht, handelt aber de facto danach. Kombiniert mit dem vorigen Punkt sehen wir das große Problem: AfD und Linke kommen zusammen deutlich auf die absolute Mehrheit.
Wir haben also ein Problem: Es gibt keine Parteikombination, die auf Basis genannter teils ideologischer Ablehnungen eine Mehrheit hätte.
- Rot-Rot-Grün unter Ramelow: 42/46
- Mitte-Koalition unter Kemmerich: 39/46
Entweder müsste eine linkslastige Regierung von der CDU/FDP gestützt werden, was schmerzhaft und unwahrscheinlich ist, oder der kümmerliche Rest von Mitte-Parteien müsste von die Linke oder AfD unterstützt werden. Nur wäre eine CDU/FDP geführte Mitte-Koalition für die Linke, die selbst stärkste Kraft ist und den Ministerpräsidenten stellen wollte, auch schmerzhaft und unwahrscheinlich. Die AfD würde nur dann etwas unterstützen, wenn sie dadurch Schaden am politischen System anrichten kann, also auch keine Option.
Daher möchte ich eine für sich gesehen überaus problematische Aussage treffen: Der
Hauptschuldige an der jetzigen Situation ist der
thüringer Wähler. Jede Stimme, die an die AfD geht, macht die Bildung einer Regierung schwierig. Aufgrund jahrzehntealter Scheuklappen vonseiten CDU/FDP gegenüber der Linken würde ich üblicherweise auch sagen, dass man dasselbe über Stimmen für die Linke sagen sollte, allerdings möchte ich mich hierin auf den Reichstag beschränken. Besonders problematische Positionen der Linken, zum Beispiel zur NATO, die eine Regierungsbildung mit der Linken im Bund verunmöglichen, fallen auf Landesebene weg. Im Fall von Thüringen möchte ich eine weitere Einschränkung geltend machen: Man sagt (und ich selbst weiß es nicht, da ich nicht in die Materie eingearbeitet bin), die Thüringer Linke unter Ramelow ist gemäßigt und man sieht, dass nach fünf Jahren Rot-Rot-Grün das Land auch nicht in Flammen steht. Im Gegenteil, die Bevölkerung scheint recht zufrieden mit ihm und es gibt sogar in CDU/FDP hohe Zustimmungswerte für ihn.
Was wäre meiner Meinung die ideale Lösung gewesen bei diesen Wahlergebnissen? Ich denke, die von Mohring vorgeschlagene
CDU-Linke-Projektregierung wäre eine gute Lösung gewesen, dazwischen dann das eine oder andere Rot-Rot-Grüne Projekt, für das man Zustimmung mithilfe Schwarz-Roter Projekte erfeilscht, dann vorgezogene Neuwahlen. Nur...
- Von der Partei, insbesondere der Parteichefin Kramp-Karrenbauer, wurde er sofort zurückgepfiffen. Ohne dieses Ereignis hätte ich Chancen für diesen Vorstoß gesehen und wir hätten den jetzigen Schlamassel nicht. Daher sehe ich an der jetzigen Situation eine erhebliche Mitschuld an der bornierten Sturheit der CDU-Spitze, der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass man um eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit der Linken in Thüringen nicht herumkommen kann, ohne der Hauptverantwortliche für Stasis im Landtag zu sein.
- Ramelow ist Rot-Rot-Grün prinzipiell lieber.
Die Folge dessen ist, dass Ramelow sich ohne Mehrheit zur Wahl gestellt hat (was die CDU nun gerne zu Ramelows Hybrids aufbauschen möchte, wobei ich große Zweifel habe, dass dieses Narrativ verfängt) und Mohrings CDU nun die Linke geradezu gedemütigt hat, indem sie Ramelow die Stimme verweigert und stattdessen den FDP-Kandidaten gewählt hat mit dem im Raum stehenden Risiko dass die AfD sich dieses Abstimmungsverhalten schamlos zunutzemachen würde.
Was wäre meiner Meinung eine praktikable Alternativlösung gewesen?
Kemmerichs Mitte-Koalition für zwei Jahre einrichten, bis sie zwangsläufig auseinanderfällt und dann in saubere Neuwahlen gehen, weil bei aktuellen Mehrheitsverhältnissen die Möglichkeiten inhaltlicher Zusammenarbeit des Parlaments erschöpft sind. Allerdings stellen sich Grüne und SPD kategorisch gegen diese Option. Das Argument ist, dass man einen mit den Stimmen der AfD gewählten Ministerpräsidenten nicht unterstützen werde. Das halte ich für vorgeschoben. SPD und Grüne wollten trotz merklicher Verluste und insbesondere dem Einbüßen der Mehrheit im Parlament ihre Rot-Rot-Grüne Koalition fortführen und sich nicht mit CDU/FDP einlassen. Hätten sie so auch reagiert, wenn Ramelow mit Stimmen der AfD gewählt worden wäre? Wohl kaum. Wäre auch eine katastrophal dumme Haltung. Wenn jede Position, die von der AfD vertreten wird, aus dem Diskurs genommen, wenn jedes Gesetz, das mit Stimmen der AfD beschlossen als illegitim betrachtet und wenn jeder Kandidat, der mit den Stimmen der AfD ins Amt kommt, zur Ablehnung oder zum Rücktritt gezwungen ist, hat die AfD leichtes Spiel: Sie muss lediglich Positionen anderer Parteien postulieren oder ihre Kandidaten wählen und löst damit selbstauferlegte Erstarrung aus. Das ist kein souveräner Umgang mit AfD-Abgeordneten, sondern eine Bankrotterklärung.
Eine Mitte-Koalition wäre, obschon Kemmerich mit AfD-Stimmen gewählt worden ist, von der Linken zu stützen. Eine Regierung aller Parteien außer AfD und Linken mit Unterstützung der Linken enthält
keine Beteiligung der AfD, es gäbe
keine Zusammenarbeit mit ihr. Deshalb wäre diese Alternativlösung mein Favorit gewesen angesichts des blamablen Ergebnisses, dass die FDP, die gerade mal 73 Stimmen am Verfehlen der 5%-Hürde vorbeigeschrammt ist, nun den Ministerpräsidenten stellt. Nur ist diese Option nicht möglich, da alle Parteien ihr löbliches aber dummes Mantra aufrechterhalten möchten.
So, nun haben wir also den Salat. Die innere Zerstrittenheit der CDU tritt offen zutage, die CDU-Parteivorsitzende kann sich gegenüber dem Landesverband weiterhin nicht durchsetzen und wird in ihrer Autorität damit weiter beschädigt. Die FDP nimmt Schaden, da nun der Anschein einer Zusammenarbeit mit der AfD erweckt ist (den ich für faktisch falsch halte). Infolgedessen ist Lindner als Parteichef zum ersten Mal ernsthaft angeschlagen, der Einzug ins Hambuger Parlament ist gefährdet und bei Neuwahlen in Thüringen würde die FDP sauber wieder aus dem Landtag ausscheiden. Ramelow ist gedemütigt, seine linke Hand verhält sich im Parlament unwürdig und SPD und Grüne fallen über CDU und FDP her. Allein Habecks unverschämte und rechtlich unmögliche Forderung, die Landesverbände abzustoßen... also wenn wir mal einen grünen Kanzler haben, dann hoffe ich weiterhin, dass es nicht Habeck wird. Die Parteien zeigen sich in einem erbärmlichen Zustand und wer steht am Rand, grinst schelmisch und kichert sich ins Fäustchen? Ja nun...
Da sich nun die Mohring-CDU weigert, einer Selbstauflösung des Landtags zuzustimmen, ist bei der Weigerung von SPD und Grünen zur Zusammenarbeit die einzige Lösung ein Misstrauensvotum gegen Kemmerich gefolgt von einer Wahl Ramelows bei relativer Mehrheit, gefolgt von einer Rot-Rot-Grünen Minderheitsregierung, die aus Schuld und Schande von CDU/FDP getragen werden muss. Aus Sicht des sich selbst als bürgerlich verstehenden Lagers also eine der schlechtesten Möglichkeiten, denn anders als bei einer Mitte-Koalition oder der Schwarz-Roten Projektregierung kann man nicht viel ausrichten.
Schade, dass Kemmerich auf die AfD-Finte mit einer Zustimmung zur Wahl reagiert hat. Hätten er und Lindner die Situation ordentlich durchdacht, hätten sie sehenden Auges in die Finte laufen und die Wahl dann mit einer ordentlichen Rede abschmettern müssen, zur Selbstvergewisserung und um die AfD ins Leere laufen zu lassen. Ramelow hätten sie damit immer noch eine reingewürgt (immerhin ist er ein Linker und damit automatisch ein Feind), aber die Parteien der Mitte hätten die Brandmauern gegen die AfD nicht nur postuliert, sondern medienwirksam bewiesen.
Stichwort Medien: Ich bin sehr unzufrieden mit der irreführenden Darstellung der Situation im Parlament. Denn in so ziemlich jedem Bericht zeigt man nur den unwürdigen Straußwurf der Linken und den knappen Handschlag mit Höcke. Das ist eine irreführende Darstellung, da das beileibe nicht
alle Glückwünsche sind. Zum Beispiel wird der längere Handschlag mit Mohring völlig unterschlagen, von den übrigen Abgeordneten ganz zu schweigen. Natürlich kann man nur einen Ausschnitt zeigen und nennen, aber hier wird ein Narrativ der Zusammenarbeit von FDP und AfD geschaffen, das ich als nicht haltbar erachte.
Noch irreführender finde ich die teilweise erfolgende Gleichstellung durch Parallelenziehung von FDP und NSDAP, die auch im obigen Zitat anklingt. Wohlgemerkt durch Politiker, nicht die Medien selbst – zumindest nach dem, was ich mitbekommen habe. Die FDP ist keine Partei von Nazis, da gibt es andere. Nur, weil ein FDP-Kandidat mit Stimmen der AfD gewählt wurde, macht ihn das auch nicht zum Nazi. Siehe dazu auch erneut meinen Kommentar zum Thema Mitwahl AfD weiter oben in diesem Beitrag. Die Wahl anzunehmen war unrühmlich und unanständig, aber legal und durch den Souverän vermittels der Abgeordneten demokratisch legitimiert (anders als von Walter-Borjans zu hören, der Kemmerich
jede demokratische Legitimation abspricht), wenn auch unter Verstößen gegen gute parlamentarische Gepflogenheiten vonseiten der AfD. Kennt man von ihr nicht anders. Solange es kein Mitwirken der AfD am Regierungswirken in Form der Ausgestaltung von Gesetzesvorhaben u.Ä. gibt, haben wir keine Beteiligung einer Nazi-Partei in deutschen Parlamenten. Ich halte daher den großen Aufschrei in den Parteien und auf der Straße ("Lieber mit Faschisten regieren als nicht regieren." ist hier im Übrigen, wenn auch unrichtig, noch einer der stilvollsten Protestslogans) für sachlich fehlgehend und in der Intensität übertrieben.
Aber ich nehme an, andere hier im Forum werden das anders sehen. Also, treten wir in einen Meinungsaustauch ein.