Eigenes Werk Die Geduld

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Die Geduld

Schon seit ein paar Tagen wartete diese Gestalt dort, niemand ahnte dass er dort lag, geschweige denn dass sich überhaupt jemand seiner Anwesenheit bewusst war. Tief atmete der Mann unter dem tarnfarbenen Mantel ein, ein langer Stoß wich schließlich wieder aus seiner Lunge. Sein Atem kondensierte in der kalten Luft, formte warmen Dampf der aus seiner Nase drang.
Wie ihn die Aufträge wohl immer dort hin brachten? Er wusste es nicht. Letztendlich waren seine Auftraggeber ja auch dafür verantwortlich, wo er zu liegen und wie er seine Arbeit auszuführen hatte. Im kalten Schnee, unter einer weißen und dennoch warmen Plane versteckt, lag er, der Künstler der die schönsten Plätze in die Alpträume der Menschen verwandelte. Ruhig lag sein Zeigefinger auf dem Abzug, sein Auge erspähte wie jenes eines Adlers seine Beute. Das Fadenkreuz ruhte auf dem Eingang eines Gebäudes, ein Hotel. Dort gingen die ganz Großen aller Verbrechersyndikaten täglich ein uns aus, als ob dort jeden Tag eine Convention allein für die kriminellen Energien stattgefunden hätte.
Nicht dass er die Unschuld an sich wäre, so arbeitete er doch für einen dieser Kriminellen die nur die Konkurrenz ausgeschaltet haben und dessen Geschäfte übernommen haben möchte. Genau da kam er ins Spiel. Niemand kannte seinen richtigen Namen, einige nannten ihn Ninja, andere Schatten und wieder andere Der unerwartete Tod. Doch all diese Namen hatten eines gemeinsam: dort wo er war wurde sehr bald still. Wie ein Künstler der die präzisesten Striche auf einer Leinwand vollführte, nur das seine Farbe das Blut seiner Ziele war.​
Ein weiterer Atemzug, die Vögel zwitschern, inzwischen erhob sich die Sonne wieder anmutig über den Horizont, erzeugte ein wundersames Schauspiel zwischen den kahlen Ästen der Bäumen. Sanft wurde das Weiß des Schnees von den Lichtstrahlen erhellt, während alles wirklich sehr schön und faszinierend unschuldig wirkte. Geduld brauchte es, Geduld war eine Tugend und als ihm das seine Eltern damals beibrachten hatte er ihnen den Vogel gezeigt. Doch mittlerweile konnte er ihnen für diese Weisheit nur danken, denn ohne sie wäre er zu diesem Zeitpunkt nichts gewesen.​
Die Tür regte sich, nach langen Tagen des Wartens ruhte ein Fadenkreuz auf dem Kopf eines Geschäftsmannes. Krawatte, teurer Anzug, mit Haargel hoch gerichtete Haare. Dieses schmierige Gesicht eines Mannes, der nach außen hin Spenden für Krankenhäuser und die medizinische Forschung erbrachte, aber in der Hinterhand auf dem Schwarzmarkt mit menschlichen Organen und tatsächlich auch Sklaven handelte. Ein großer Markt und sein Auftraggeber meinte, dieser Mann habe dort lang genug mitgemischt. David Morgenstern. Internationaler Geschäftsmann, mehrfacher Millionär und Eigentümer der Health & Care Inc. Privatisiertes Gesundheitswesen war ein Graus und zu mal dieser Auftrag eine Menge Geld einbrachte, konnte jeder dabei gewinnen.
Da kam er also, mit seinem aufgesetzten Grinsen und seinem wichtigtuerischen Verhalten, grüßte die Presse und die Menschen um sich. Sie feierten ihn als einen Held, wussten nicht einmal ansatzweise über seine dunklen Geheimnisse Bescheid, ansonsten, wäre er wohl sehr schnell vom Fenster verschwunden. Nun war der große Moment des Künstlers gekommen, sein Gefühl für die Kugel, der Pinsel seiner Arbeit die er nun in dieses Meisterwerk stecken würde. Die Schulter wurde an das Gewehr gepresst, der Atem wurde langsamer, der Herzschlag milderte sich allmählich ab. Die freie Hand justierte das Zielfernrohr nach. Entfernung 637m, Windgeschwindigkeit 2km/h aus Nordwesten. Perfekt. Die Hand wandert zum Gewehr, stabilisiert es. Die Zeit hielt beinahe inne, das linke Auge geschlossen, das Rechte das Ziel fixierend. Langsam schritt er voran. Lief entlang auf dem Teppich der zu seinen Ehren ausgerollt wurde, nichtsahnend, unwissend, naiv. Für ihn ein Punkt, der nicht sichtbar auf seiner Stirn prangte.
Eins … Zwei … Pause … Eins … Zwei … Pause … Eins … Zwei … Pause … Eins … Zwei … Pause … Eines der wichtigsten Organe des Menschen, das Herz, das Pumpen, zwei Schläge, eine kurze Pause und darauf wieder zwei zusammenhängende Schläge. Zwei Schläge die alles ruinieren konnte. Doch nicht heute, eine Leinwand musste gefüllt werden. Eins … Zwei … Pause … Eins … Zwei … Pause … Eins … Zwei … Pause … Eins … Zwei … Schuss … Noch bevor der erneute Schlag einsetzen konnte, färbte sich die Kuppe des Fingers weiß, der Abzug zog durch und der Schlagbolzen traf auf die Rückseite der Patrone. Eine Kaliber .308 Geschoss wurde mithilfe des Schießpulvers aus der Fassung der Hülse gepresst, entlang des Laufes, ehe der bleierne Tode die freie Luft des Winters kennenlernen durfte. Der Knall ertönte, der Gewehrschaft seines L96 presste sich in seine Schulter. Kein Problem für ihn. Sein Auge blieb ruhig, schaute durch das Zielfernrohr auf sein Ziel. Nicht einmal eine Sekunde später geschah es. Eine rote Wolke trat hinter David auf, seine Augen weit aufgerissen, ein klaffendes Loch in seiner Stirn und schließlich auch in seinem Hinterkopf.
Noch während der Knall in seiner Umgebung verhallte, brach lautes Geschrei vor dem Hotel aus, Panik und Angst herrschten vor, als sich die Leinwand des Schattens mit dem Blute seines Opfers färbte. Stumm öffneten sie ihre Münder, sie schrien, rannten, suchten aus Panik Schutz hinter jedem Gegenstand den sie finden konnten. Doch niemand hatte es kommen sehen, alle waren sie unwissend und doch vollkommen ungefährdet. Seine Arbeit war getan. Die Hand eben noch am Abzug, ergriff sie schon im nächsten Moment den Repetierhebel, drückte ihn nach oben und zog ihn zurück. Beinahe ob sie sich darüber freuen würde sprang die Patronenhülse aus der Kammer, die einzige Patrone der Waffe die geladen war. Das noch heiße Stück Metall landete im Schnee neben ihm, brannte sich durch die Ansammlung von Flocken und ließ das gefrorene Wasser wieder ganz liquide werden.
Warum er das tat? Um diese Frage zu beantworten bedurfte es mehr als eine einfache Erklärung, doch einer der wichtigsten Gründe stellte sich für ihn wohl darin dar, dass seine Frau, trotz ihres eigenen, exotischen Geschäftes, ernährt werden wollte. Ein ungeborenes Kind schon bald eine Zukunft haben sollte. Nach jedem Schuss, nach jedem Treffer versprach er sich aufzuhören, doch was wäre ein Künstler der seine eigene Kunst verschmähte, sein eigenes Werk zerstörte? Nein. Man mochte ihn grausam nennen, ehrlos, kriminell, einen Gesetzesbrecher. Doch das was tatsächlich zählte, dass seine Frau und er leben, sein Kind gesund die Zukunft verbringen und der Gerechtigkeit genüge getan werden konnte. Wenn kein Richter ist, der nicht bestochen wurde, dann musste eine wesentlich freiere Hand etwas übernehmen, wofür die Meisten nicht in der Lage waren. Ein Kunstwerk zu erschaffen, Strich für Strich, Tropfen für Tropfen, Kugel für Kugel und Tod für Tod. Es blieb einzigartig. Sie nannten ihn verrückt, doch sind nicht alle Künstler auf ihre Art und Weise verrückt?​
Einer seiner Mundwinkel verzog sich nach oben, der Atem wurde normal, der Herzschlag ebenfalls. Nichts mehr konnte ihm von seinem Erfolg abhalten. Doch war nun Eile geboten, bald würden sie hier sein und alles untersuchen. Herausfinden wollen wie er seine Kunst vollführte. Dazu durfte es nicht kommen. Was wäre schon besonders daran, wenn man hinter das Geheimnis käme, die Vorhänge öffnete bevor das Stück überhaupt vorbereitet werden konnte? So weit durfte es nie kommen und aus diesem Grund nannte man ihn den Schatten. Keine Spur führte zu ihm, niemand entlarvte ihn, niemand sah ihn. Ein Virtuose, ein liebender Mann, ein fürsorglicher Vater, ein Mann der Gerechtigkeit brachte und dabei keinem System vertraute. Jener Mann kroch unter der Plane hervor, erhob sich und schulterte seine Waffe. Das Werk vollbracht, das Crescendo herbeigeführt. Wie er diese Bühne betreten hatte, so verließ er sie auch wieder. Still und heimlich.​

 
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