Oblivion:Gestohlene Schatten

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Diese Seite enthält den Text von Gestohlene Schatten aus The Elder Scrolls IV: Oblivion.

Inhalt

Gestohlene Schatten

Entwendete Schatten von Waughin Jarth

KAPITEL EINS

Die Kerze wurde entzündet, und da stand die Diebin, blinzelnd, ertappt. Sie war jung, recht schmutzig, in zerlumpten schwarzen Kleidern, die vor Wochen sicherlich recht elegant und teuer gewesen waren, als sie sie vom besten Schneider der Stadt gestohlen hatte. Die Überraschung verschwand aus ihrem Gesicht, und mit ausdrucksloser Miene legte sie das Gold auf den Tisch zurück.

„Was tut Ihr da?“ fragte der Mann mit der Kerze und trat aus den Schatten.

„Das ist eine blöde Frage“, antwortete das Mädchen mit einem Stirnrunzeln. „Offensichtlich bin ich dabei, Euch zu bestehlen.“

„Da nichts, was ich besitze, fehlt“, lächelte der Mann und blickte zum Gold auf dem Tisch, „würde ich sagen, Ihr bestehlt mich gar nicht. Höchstens habt Ihr es vielleicht versucht. Meine Frage ist, warum? Ihr wisst doch bestimmt, wer ich bin. Ihr seid nicht einfach durch eine unverschlossene Tür hereingekommen.“

„Ich habe alle anderen bestohlen. Ich habe der Magiergilde Seelensteine entwendet, ich habe die Schatzkammer der sichersten Festung geplündert, ich habe den Erzbischof von Julianos betrogen - ich habe sogar dem Kaiser Pelagius bei seiner Krönung die Taschen geleert. Also dachte ich, jetzt wäret Ihr an der Reihe.“

„Ich fühle mich geschmeichelt“, nickte der Mann. „Nun, da Eure Absicht vereitelt ist, was wollt Ihr tun? Fliehen? Eventuell in Rente gehen?“

„Werdet mein Lehrer“, antwortete das Mädchen, und musste unwillkürlich ein wenig grinsen. „Ich habe alle Eure Schlösser geknackt, ich bin an allen Euren Abwehrmechanismen vorbeigeschlüpft! Ihr habt sie entworfen, Ihr wisst, wie schwierig das für jemanden ohne Ausbildung ist. Ich bin nicht für sechs Goldstücke hergekommen. Ich kam, um mich zu beweisen. Macht mich zu Eurer Schülerin.“

Der Meister der List blickte die kleine Einbrecherin an. „Eure Fähigkeit braucht kein Training. Eure Planung ist angemessen, doch dabei kann ich Euch helfen. Was hoffnungslos ist, ist Euer Ehrgeiz. Ihr stehlt längst nicht mehr für Euren Lebensunterhalt; jetzt stehlt Ihr zum Vergnügen, wegen der Herausforderung. Das ist ein Charakterzug, der unheilbar ist und Euch ins frühe Grab bringen wird.“

„Habt Ihr niemals zu stehlen gewünscht, was nicht gestohlen werden kann?“ fragte das Mädchen. „Etwas, das Euren Namen auf ewig berühmt machen würde?“

Der Meister antwortete nicht, er runzelte nur die Stirn.

„Offensichtlich habe ich mich durch Euren Ruf täuschen lassen“, meinte sie achselzuckend und öffnete ein Fenster. „Ich glaubte, Ihr suchtet eine willige Komplizin bei einem großartigen Diebstahl, der in die Geschichte eingehen würde. Wie Ihr schon sagtet, meine Planungsfähigkeit ist nur angemessen. Ich hatte nicht an einen Fluchtweg gedacht, aber das hier wird ausreichen.“

Die Einbrecherin glitt die senkrechte Mauer hinunter, jagte über den schattigen Hof und war innerhalb weniger Minuten zurück in ihrem Zimmer in der verkommenen Taverne. Dort wartete der Meister in der Dunkelheit auf sie.

„Ich habe nicht gesehen, dass Ihr an mir vorbeigekommen seid“, keuchte sie.

„Ihr habt Euch auf der Straße umgedreht, als die Eule rief“, antwortete er. „Das wichtigste Werkzeug im Arsenal des Diebes ist die Ablenkung, entweder geplant oder improvisiert. Ich nehme an, Eure Lektionen haben begonnen.“

„Und was ist der abschließende Test?“ lächelte das Mädchen.

Als er es ihr sagte, konnte sie ihn nur anstarren. Sie hatte scheinbar seinen Ruf für Wagemut doch nicht überschätzt. Nicht im geringsten.

KAPITEL ZWEI

In der Woche vor dem Achten des Herdfeuers waren die Himmel über Rindale dunkel und lebendig, da Wolken von Krähen die Sonne verdunkelten. Ihr kehliges Gekreische und Gekrächze machten alle taub. Die Bauern verriegelten klugerweise ihre Türen und Fenster und beteten, diesen unheiligsten aller Tage zu überleben.

In der Nacht der Beschwörung verstummten die Vögel, ihre schwarzen, stechenden Augen folgten dem Marsch der Hexen in das Tal. Es schienen keine Monde, um den Weg zu erhellen, nur die einzelne Fackel der Anführerin in der Düsterkeit. Ihre weißen Roben erschienen wie unbestimmte Formen, wie extrem schwache Geister.

Ein einzelner hoher Baum stand in der Mitte der Lichtung, jeder Ast dicht mit Krähen besetzt, die der Prozession bewegungslos zusahen. Die Anführerin der Hexen platzierte die Fackel am Fuß des Baumes, und ihre siebzehn Anhängerinnen bildeten einen Kreis und begannen ihren langsamen, seltsamen, klagenden Gesang.

Während sie sangen, begann das Leuchten der Fackel sich zu verändern. Es wurde nicht geringer, aber seine Farbe ging immer mehr in Grau über, so dass es schien, als sei eine pulsierende Woge von Asche auf die Hexen gefallen. Dann wurde es noch dunkler, so dass für einen Augenblick im Wald finstere Nacht herrschte, obwohl das Feuer noch brannte. Das Halbdunkel breitete sich weiter aus, bis die Fackel in einer namenlosen Farbe brannte, mit einer Leere jenseits bloßer Schwärze. Sie warf einen Schein, doch es war ein unnatürliches Funkeln, das auf die Hexen fiel. Ihre weißen Roben wurden schwarz. Die Dunmer unter ihnen hatten grüne Augen und elfenbeinweißes Fleisch. Die Nord erschienen schwarz wie Kohle. Die von oben zuschauenden Krähen waren so schneeweiß wie die Umhänge der Hexen zuvor.

Die Daedra-Fürstin Nocturnal trat aus der Grube der Unfarbe.

Sie stand im Zentrum des Kreises, der Baum der blassen Krähen war ihr Thron, distanziert, während die Hexen ihren Gesang fortsetzten und ihre Roben fallen ließen, um sich nackt vor ihrer großen Herrin zu Boden zu werfen. Sie wickelte ihren Nachtumhang um sich und lächelte bei ihrem Lied. Es sang von ihrem Geheimnis, von verhüllter Schönheit, von ewigen Schatten und einer göttlichen Zukunft, in der keine Sonne mehr brennt.

Nocturnal ließ ihren Umhang von den Schultern gleiten und war nackt. Ihre Hexen hoben die Köpfe nicht vom Boden, sondern sangen weiter ihre Hymne an die Dunkelheit.

„Jetzt“, sagte das Mädchen zu sich selbst.

Sie hatte den ganzen Tag im Baum gesessen, gekleidet in einen lächerlichen Umhang aus falschen Krähen. Bequem war das gerade nicht, doch als die Hexen eintrafen, hatte sie allen Schmerz vergessen und sich darauf konzentriert, vollkommen still zu sein wie die anderen Krähen im Baum. Es hatte sie und den Meister der List beträchtliche Planung und Forschung gekostet, das Tal zu finden und zu erfahren, was sie bei der Beschwörung von Nocturnal zu erwarten hatten.

Behutsam, geräuschlos glitt die Einbrecherin an den Ästen des Baumes hinab und kam der Daedra-Fürstin immer näher. Für einen Augenblick ließ sie in ihrer Konzentration nach; sie fragte sich, wo der Meister war. Er hatte an den Plan geglaubt. Er sagte, dass es, wenn Nocturnal ihren Umhang fallen ließe, eine Ablenkung geben würde und dass der Umhang in diesem Augenblick leicht ergriffen werden könne, vorausgesetzt, das Mädchen wäre genau im richtigen Moment in Position.

Das Mädchen kletterte den untersten der Äste entlang und schob vorsichtig die Krähen beiseite, die, wie der Meister gesagt hatte, beim Anblick der Fürstin in ihrer nackten Schönheit wie erstarrt waren. Das Mädchen war nun nahe genug, Nocturnals Rücken berühren zu können, wenn sie nur ihren Arm ausstreckte.

Das Lied steigerte sich zu einem Crescendo, und das Mädchen wusste, dass die Zeremonie bald vorüber sein würde. Nocturnal würde sich wieder ankleiden, bevor die Hexen den Gesang beendeten, und die Chance, den Umhang zu stehlen, wäre vorbei. Das Mädchen umkrallte den Ast, während seine Gedanken rasten. Wäre es möglich, dass der Meister gar nicht hier war? War dies, war es denkbar, dass dies der ganze Test war? Ging es nur darum zu zeigen, das es machbar war, nicht darum, es tatsächlich zu tun?

Das Mädchen war wütend. Sie hatte alles perfekt ausgeführt, doch der so genannte Meister der List hatte sich als Feigling erwiesen. Vielleicht hatte er sie in den Monaten, die es gedauert hatte, dies zu planen, ein wenig gelehrt, doch welchen Wert hatte das? Nur eines ließ sie lächeln. In jener Nacht, in der sie sich in seine Festung hineingestohlen hatte, hatte sie eine einzelne Goldmünze behalten, und er hatte niemals Verdacht geschöpft. Es war symbolisch, gewissermaßen so symbolisch wie der Diebstahl von Nocturnals Umhang, da es bewies, dass der Meisterdieb bestohlen werden konnte.

Das Mädchen war so in seinen Gedanken verloren, dass es einen Augenblick lang dachte, es sei nur Einbildung, als die Stimme eines Mannes aus der Dunkelheit rief: „Herrin!“

Sie wusste, dass sie sich die nächsten Worte nicht einbildete: „Herrin! Ein Dieb! Hinter Euch!“

Die Hexen hoben ihre Köpfe und schrien, wodurch sie die Heiligkeit der Zeremonie zerstörten, während sie heranstürmten. Die Krähen erwachten und barsten in einer Explosion von Federn und krötenartigen Schreien aus dem Baum hervor. Nocturnal selbst wirbelte herum und fixierte das Mädchen mit ihren schwarzen Augen.

„Wer bist du, die diese Entweihung wagt?“ zischte die Fürstin, während die pechschwarzen Schatten von ihrem Körper flogen und das Mädchen in ihre tödliche Kälte hüllten.

Im letzten Augenblick, bevor sie bei lebendigem Leibe von der Dunkelheit verschlungen wurde, blickte das Mädchen zu Boden und sah, dass der Umhang verschwunden war; jetzt verstand sie und antwortete: „Ja, wer bin ich? Ich bin die Ablenkung.“